In Partnerschaft mit

Dass der Begriff inneres Kind so populär wurde und sich den Weg aus der Psychotherapie in den Mainstream gebahnt hat, ist unter anderem der Autorin Julia Cameron zu verdanken. 1992 verfasste sie mit „The Artist’s Way“ einen Bestseller, der noch heute als Standardwerk für all jene gilt, deren Beruf Kreativität erfordert.

Mein Beruf erfordert jede Menge Kreativität, aber mein Leben steht mir dabei manchmal im Weg. Ständig will irgendwer irgendwas von mir – ich reagiere, ich funktioniere, aber bin das noch ich? Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, nicht mehr selbst den Takt anzugeben, fühle mich getrieben von der Zunahme der Reize – und verliere zusehends das Urvertrauen, das mich einst so stärkte.

Je besser ich „performe“ (was für ein Unwort!), desto größer werden absurderweise meine Existenzängste. Jede Chance soll meine sein. Her mit der Selbstoptimierung, her mit dem Erfolg. Ich bin fleißig. Ich bin schnell. Ich bin besser als die anderen. Ein „Nein“ fällt mir schwer. Lieber bin ich verlässlich. Ich habe doch so viel zu geben von meiner Begabung. Ich habe doch so viel Energie. Und ein fabelhaftes Leben, eine abwechslungsreiche Arbeit, eine schöne Wohnung, sogar ein kleines Ferienhaus am Wasser, allerliebste Freunde, fantastische Kollegen, verständnisvolle Chefs, putzige Katzen, zu meiner Mutter eine gute Beziehung.

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Die anderen brauchen dich, Janina. Bitte werde dem gerecht, Janina. Sei dankbar, Janina, für dein Talent, für die Möglichkeiten, die sich dir bieten. Man liebt dich, Janina. Da muss man schon etwas zurückgeben. Aber in mir ist es nicht mehr so bunt, wie es früher einmal war.

Da ist nur noch wenig Platz zwischen Abgabeterminen, Verpflichtungen und den Menschen, die meine Aufmerksamkeit verlangen. Ich will nicht verlieren, was ich eigentlich bin. Ich bin eine Kreative, keine Maschine. Und Kreativität entspringt einer Quelle, die schwer zu fassen ist und vielleicht versiegt, wenn man nicht regelmäßig aus ihr trinkt. Also verabrede ich mich zum vielleicht wichtigsten Meeting der letzten Jahre: dem mit meinem inneren Kind.

Date 1: Die Wiederbegegnung

Mit allerhand Lektüre zum Thema ziehe ich mich an meinen Lieblingsplatz zurück: ein von silbernen Weiden überwachsenen Stück Donaustrand. Unter mir knirscht der Sand, vor mir plätschert das Wasser. Hier studiere ich alle möglichen How-tos von Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anderen wieder Zugang zur ihrem kleinen Ich zu verschaffen, um in den Flow zu kommen, sich schöpferisch zu entfalten, um Blockaden zu lösen ...

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In einem Punkt sind sich alle Experten einig: Im ersten Schritt geht es darum, herauszufinden, wie alt das innere Kind denn ist. Sechs Jahre. Warum mir diese Zahl sofort durch den Kopf schießt, kann ich mir nicht erklären, nur so viel erst einmal: Am Ende meiner Reise werde ich es verstanden haben.

Die weiteren To-dos sind so einfach, dass sie fast bedrohlich auf einen Erwachsenen wirken, der sich an ein üppiges Regelwerk für ein besseres Funktionieren gewöhnt hat:
• Finde dein inneres Kind.
• Verbringe regelmäßig Zeit mit ihm – und zwar allein.
• Beobachte, was passiert.

Ich schließe die Augen und erinnere mich daran, wie ich damals war. Souverän. Selbstbewusst, abenteuerlustig, wild, kaum zur Ernsthaftigkeit fähig. Und gutmütig – gerne habe ich meine Kleidung oder meine Spielsachen verschenkt, was meine Eltern nicht immer erfreute.

Foto, Janina Lebiszczak

Bild: Anna Kliewer

Ich denke an meine liebsten Bücher, mein liebstes Spielzeug: keine süße Puppe, kein plüschiges Kuscheltier, sondern E. T., der Alien. Vielleicht nicht nur des Films wegen, sondern weil ich mir dank meines Aussehens (größer als alle anderen) und meiner Art (lauter als alle anderen) zuweilen wie eine Außerirdische vorkam.

Wo habe ich mich als Kind wohlgefühlt? In meinem Kopf, denn meine Fantasie war grenzenlos. In der Bibliothek, den wundervoll muffigen Geruch der Bücher habe ich immer noch in der Nase. In der Natur, am liebsten tobten wir in einem ehemaligen Steinbruch nahe der Schule herum. Dort haben wir uns vorgestellt, wie es wäre, frei zu sein, ganz ohne Eltern, wir waren Piraten oder Vagabunden – zumindest so lange, bis das Abendessen auf dem Tisch stand.

Ich hatte eine schöne, reiche Kindheit. Und jetzt soll ich mich bei meinem inneren Kind entschuldigen, dass ich es allein gelassen habe? Denn das steht in den meisten Büchern zum Thema. Sorry, Leute: Ich habe es nicht alleingelassen. Aber vielleicht bin ich ihm ein paar Antworten schuldig.

Date 2: Der geheime See

Dass bereits am zweiten Tag nach Beginn des Experiments etwas Magisches passiert, damit hätte ich nicht gerechnet. Es sollte sich in dieser Intensität auch nicht wiederholen. Aber ich habe den geheimen See entdeckt. Um zu erklären, was an diesem Tag passierte (um das mich fix Die drei ???, die Kinder aus Bullerbü und Hanni & Nanni beneidet hätten), muss ich etwas ausholen: In den Donauauen versteckt soll es einen fast unberührten Ort geben. Nur Frösche, Fische, Schilf und Wasser mitten im Wald. Das erzählt man sich.

Denn es gibt dort nicht nur keine Gastro und keine Liegeflächen, sondern vor allem auch keine Wegweiser. Am Abend zuvor erst hatte ich mich mit dem Mann einer Freundin über diesen See unterhalten. Er gab mir auch einen wichtigen Tipp, um mein inneres Kind zu kultivieren – wenn ich es denn finden sollte: „Wenn dir etwas besonders Schönes passiert, nimm dein Kind, setze es auf deinen Schoß und umarme es.“ Na gut.

Am Morgen danach setze ich mich aufs Rad, ohne viel darüber nachzudenken. Ich möchte mich bloß bewegen. Es ist bewölkt und schwül. Mit der Sonne sind auch die Menschen verschwunden. Ich radle mit nackten Beinen und ohne Handy und ohne Ziel die Donau entlang. Ich schau nicht rechts, nicht links, bis ich es eben doch tue – und neben zwei Parkbänken hinter einem Mistkübel etwas entdecke, was mit viel Fantasie wie ein kleiner Weg aussieht.

Wenn dir etwas besonders Schönes passiert, nimm dein Kind, setze es auf deinen Schoß und umarme es.

Hunderte Male bin ich genau an ebendiesem Zugang vorbeigeradelt, das erste Mal nehme ich ihn jetzt wahr. Ich stelle das Rad ab und verschwinde in den Tiefen der Au. Nach ein paar Metern treffe ich eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht. „Wissen Sie, wo hier der See ist?“, frage ich sie. Die Frau verneint. Sie geht zwar oft hier ihre Runden, aber ein See? Nein.

Üblicherweise würde ich nun umdrehen. Aber ich gehe weiter und tiefer in die Auen, und bald verwandeln sich die befestigten Wege in überwucherte Trampelpfade. Eine Gabelung, noch eine Gabelung ... Keine Ahnung, wohin ich gehe, mein Orientierungssinn ist so gut wie nicht mehr vorhanden. Neben mir knirscht es im Dickicht: ein Reh. So nahe – kaum drei Schritte entfernt. Mein Herz hüpft – was für ein Abenteuer!

Und hinter der nächsten Kurve kann ich ihn schon riechen: den geheimen See. Er liegt vor mir, als hätten sich die Nebel von Avalon gelichtet. Und er ist wunderschön. Ich bin eine Entdeckerin! Schmetterlinge, Kaulquappen, meterhohe Gewächse, wild und sanft zugleich. Gierig umrunde ich den See, will ihn von jedem Ufer aus betrachten.

Mein inneres Kind jubelt, und ich nehme es nicht nur auf den Schoß, ich schleudere es in die Luft, fange es auf, umarme es, und wir lachen. Am Rückweg verlaufe ich mich, und zwar so heftig, dass ich zwei Kilometer entfernt von meinem Rad aus dem Wald taumle. Aber ich habe keine Angst. Ich vertraue darauf, dass mir nur Gutes passieren wird. Geborgenheit in sich selbst zu finden ist ein wundervolles Gefühl.

Date 3: Fett und Zucker

Als Erwachsene entwickeln wir Glaubenssätze, um uns in dieser Welt zu orientieren. Sie verleihen unserem Leben Stabilität und Ordnung. Gerade in Sachen Ernährung gibt es hunderte verschiedene Glaubenssätze, und wir verteidigen sie oftmals, als hinge unser Leben davon ab: Salat am Abend sorgt für Bauchweh, Kohlenhydrate sind des Teufels, fünf Portionen Gemüse pro Tag dafür ein Muss. Wir trinken nicht, wir hydrieren uns.

Nachspeise? Selten bis nie. Einen Satz habe ich dabei am öftesten gehört: „Das ist mir zu süß.“ Immer wieder habe ich mich heimlich gefragt: Wie kann ein Dessert zu süß sein? Sogar Obst ist süß. Und trotzdem lernen wir als Erwachsene wenn schon, dann zur noblen Bitterschokolade zu greifen. Wegen der Flavonoide natürlich, die sind gut fürs Herz-Kreislauf-System ...

In Wirklichkeit – so vermute ich es – geht es uns darum gar nicht. Wir haben Angst davor, dick zu werden, wenn wir uns dem Fett und dem Zucker hingeben. Und abgelehnt zu werden, weil wir nicht schön genug sind, um zu gefallen. Mein inneres Kind will aber nicht gefallen, es will Milchschokolade. Cremige, süße Milchschokolade. Viel davon. Nicht von einer putzigen kleinen Biomanufaktur, sondern vom Lebensmittelgiganten.

Also gehe ich zur Tankstelle ums Eck und kaufe mir eine ganze Schachtel voller günstiger und sehr wahrscheinlich hochgiftiger Schokopralinen, setze mich daheim auf mein Sofa und esse. In meinem Mund feiert das innere Kind eine Party. Die ersten paar Stück werden ohne jede Rücksicht auf Verluste runtergeschlungen. Später wird gelutscht und genossen. Nicht ein Stück, nicht zwei Stück. Die ganze Schachtel.

Foto, Janina Lebiszczak am Wasser

Bild: Anna Kliewer

Und, o Wunder, eine Premiere: Als das letzte Kunstwerk aus Industriezucker und billigem Pflanzenfett in meinem Magen gelandet ist, wird mir nicht wie üblich schlecht (was eigentlich immer passiert, wenn ich etwas esse, was Erwachsene als wertlos einstufen). Ich habe diesmal keinerlei schlechtes Gewissen, und mein Blutzucker flippt auch nicht völlig aus.

Tagesverfassung? Glück? Oder hat das, was man sich wirklich gönnt, vielleicht eine andere Wirkung auf unseren Körper und auf unsere Seele als das, was man sich gerade einmal so erlaubt? Ich wollte mich an diesem Nachmittag für nichts belohnen, es gab auch keinen Anlass für Trost durch Kalorien. Ich hatte schlicht Lust auf Schokolade. Vielleicht behalte ich das bei: statt öfter „gesund“ naschen, lieber ab und zu in die Vollen greifen. Kinder belügen sich nicht, das machen nur Erwachsene. Vielleicht sind Erstere deshalb glücklicher.

Frau in Badewanne

Wannenwonne

Du willst ein Haus am See, ein neues Fahrrad oder einfach mal ordentlich Urlaub? Nicht unsere Autorin Janina Lebiszczak: Der reicht ein schönes, schaumiges Wannenbad. Weiterlesen...

Date 4: Hupf in Gatsch!

Heute will mein inneres Kind nicht so richtig in die Gänge kommen. Es liegt im Bett und trotzt. Durch meinen Kopf spuken Deadlines, Arzttermine, Verpflichtungen und Verabredungen, die ich eigentlich gar nicht einhalten will. Also erst einmal Luft schnappen, eine Runde um den Block gehen.

In der Nacht dürfte es geregnet haben, alle Wege sind voll tiefer Pfützen. Meine Sandalen werden nass, ich rutsche auf ihnen herum, der Zehentrenner bohrt sich schmerzhaft in meine Haut, ich bin genervt. Raus aus den Schuhen! Ich merke, wie warm und weich das Wasser in den Pfützen ist. Erst stecke ich eine Zehe zaghaft in den Schlamm. Dann kommt die Sohle dran. Zuletzt springe ich hinein. Der Dreck spritzt hoch bis über meinen Hintern.

Das macht Spaß. Warum tun wir das nicht öfter? Ich hüpfe also mit meinen ein Meter achtzig von Lacke zu Lacke, bis ich endlich wieder zu Hause bin und mir eine Badewanne voll mit Schaum einlasse. Später im Bett lese ich mein allererstes Lieblingsbuch, „Das kleine Ich bin ich“: „Und das kleine bunte Tier, das sich nicht mehr helfen kann, fängt beinah zu weinen an. Aber dann bleibt das Tier mit einem Ruck, mitten im Spazierengehen, mitten auf der Straße stehen, und es sagt ganz laut zu sich: ‚Sicherlich gibt es mich! Ich bin ich!‘ Und auch der Laubfrosch quakt ihm zu: ‚Du bist du! Und wer das nicht weiß, ist dumm!‘ Bumm.“

Date 5: Malen ohne Zahlen

Kreativität ist die Fähigkeit, sich aus Normen zu befreien. Deshalb besuche ich heute den „artort“ von Kreativcoachin Barbara Loibnegger im fünften Wiener Gemeindebezirk. Dort wird experimentiert, gezeichnet, gemalt, gegipst, gesungen, gespielt, getanzt, geschaut, geredet, gelacht, geweint, getröstet.

Tatsächlich heule ich mich erst einmal ungeniert aus – im Nachhinein ein gutes Zeichen dafür, dass das, was ich so anzweifle, fabelhaft funktioniert. Ich fühle mich der Geschichte, die ich hier niederschreibe, nicht gewachsen. Ich habe Versagensängste.

Bin ich nicht ohnehin kindlich, lustig, froh genug – innen wie außen? Gibt es noch Steigerungsformen? Bei Barbara lade ich meinen geballten Frust ab. Sich trösten zu lassen ist für einen Erwachsenen oft ein Zeichen von Schwäche. Nicht für mein inneres Kind – das jammert drauflos, denn es will nicht tough sein, sondern verstanden werden.

Ich beklage, dass ich mich allein fühle, unerkannt. Erzähle dieser mir (noch) fremden Frau, wie sehr es mich trifft, wenn andere mit Neid auf mich reagieren. Wie sehr es mich wurmt, wenn man nicht die Künstlerin in mir erkennt – und bemerke, dass ich ja selbst nicht einmal dazu stehe.

Mit grünen und rosa Farbresten und viel Glitzer im Gesicht und an den Händen verlasse ich den artort und bin glücklich.

Künstler – das klingt so brotlos. Hippiekram. Ich zweifle also selbst meine größte Stärke an, spiele sie herunter. Die Kreativtrainerin führt mir vor Augen, dass ich keine Angst um meine angeborenen Ressourcen haben muss, dass diese Quelle niemals versiegen wird. „Weißt du, was für ein Geschenk du für die Welt bist, mit deinem ‚Anderssein‘?“, fragt sie – und mein inneres Kind blüht auf, wie es wohl jedes Kind tut, wenn man ihm zu verstehen gibt, dass es etwas ganz Besonderes ist.

Später malen wir drauflos, ohne Ziel, ohne dass das Werk einen Wert haben muss. Einfach aus Spaß. Mit grünen und rosa Farbresten und viel Glitzer im Gesicht und an den Händen verlasse ich den „artort“ und bin glücklich.

Fazit: Was mir mein inneres Kind verraten hat Mein inneres Kind ist sechs, weil ich in diesem Alter zum ersten Mal verstanden habe, dass die Welt auch einmal garstig, gemein und feindselig sein kann, obwohl man selbst unschuldig ist. Jetzt wissen wir beide Bescheid, selbst wenn wir an diesem Umstand nichts ändern können.

Aber mein kleines Ich wird auf mich aufpassen und mich bespaßen, mich an Blumen schnuppern und in Pfützen springen lassen, wenn es wieder einmal zu eng wird in meinem Leben und in meinem Herzen, wird mir die Wunder zeigen, die Kür und nicht die Pflicht. Und ich als Erwachsene werde ihm zuhören und es trösten, wenn es unsicher wird. Nur gemeinsam werden wir das nötige Urvertrauen ins Leben wiedererlangen können.

Geborgenheit ist keine Illusion, sondern ein Platz ganz tief in einem drinnen. Und das Abenteuer wartet hinter der nächsten Ecke. Dazu musst man nicht in den Flieger steigen oder ein Selbstfindungsseminar buchen. Man muss einfach nur um die nächste Ecke gehen. Alles, was ich nun verstehen muss, ist, dass ich frei genug bin, um meine Wahrnehmung, meine Gedanken und Gefühle selbst zu gestalten.

Danke dir, kleine, große Janina. Wir treffen uns garantiert bald wieder.