In Partnerschaft mit

Ich werde oft gefragt, welche Leute mich auf Reisen inspirieren. Von wem habe ich große und kleine Lektion über das Leben lernen dürfen? Ich weiß dann nie, wo ich anfangen soll.

Bei dem Schamanen und Alt-Hippie auf Hawaii, der mir beibrachte, dass das eigene Herz viel zu erzählen hat, wenn man ihm nur die richtigen Fragen stellt? Soll ich über die alte Frau im indischen Sterbehaus berichten, die nichts mehr besaß, außer der Hoffnung auf Nächstenliebe? Oder ist vielleicht die Story von dem Norweger besser, der mit 55 Jahren sein Geschäft auflöste, sich ein Segelboot kaufte, die Liebe im dritten Hafen fand und von sich selbst zufrieden sagt: „Ich bin ein Millionär an Zeit.“

Es sind zu viele Begegnungen, die einen prägen. Manche tun es bewusst, indem sie einen schlauen Satz nach dem anderen raushauen.

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Es sind zu viele Begegnungen, die einen prägen. Manche tun es bewusst, indem sie einen schlauen Satz nach dem anderen raushauen. Lek Chailert, eine thailändische Elefantenretterin, etwa klingt mir bis heute im Ohr. Sie pochte immer wieder auf die Wichtigkeit von Liebe und Verständnis, vor allem den eigenen Kritikern gegenüber. „Nur, wer auf seine Gegner mit offenen Armen zugeht, schafft eine respektvolle Basis für den Dialog und damit eine Chance auf Veränderung,“ meinte sie zu mir und ließ mich grübelnd mit der Frage zurück: Warum mache ich in Konfliktsituationen lieber innerlich zu statt auf? Lek macht nie zu, obwohl sie durch ihre Arbeit ständig mit Leuten aneinander gerät.

Und dann gibt es diese Menschen, mit denen man nie ein Wort spricht, die einen aber trotzdem nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Und dann gibt es diese Menschen, mit denen man nie ein Wort spricht, die einem aber trotzdem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Aktuell ist das ein Mann, der obdachlos in meiner Straße in Rio de Janeiro lebt. In der Stadt am Zuckerhut – in der ich weiterhin die Pandemie aussitze – haben viele kein Dach über dem Kopf, die soziale Ungerechtigkeit in Brasilien ist mitunter himmelschreiend. Ich sehe den Mann jeden Tag. Wir grüßen uns nickend, haben aber noch nie länger miteinander gesprochen. Das liegt nicht etwa daran, dass ich schüchtern wäre, aber mein Portugiesisch ist für eine Unterhaltung zu schlecht und um Englisch ist es in Rio generell schlecht bestellt.

Eindrücke aus Ipanema

Bild: Waltraud Hable

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In der Stadt am Zuckerhut – in der ich weiterhin die Pandemie aussitze – haben viele kein Dach über dem Kopf, die soziale Ungerechtigkeit in Brasilien ist mitunter himmelschreiend.

Ich schätze, der Mann wird um die 50 sein. Sein Vollbart ist grau-weiß, die Haut ist von der Sonne gebräunt und man sieht, dass er viel Energie darauf verwendet, seine Klamotten sauber und ordentlich zu halten. Viele, die in Ipanema auf der Straße leben, sind jung und drogenabhängig. Sie rauchen Crack, um ihre Vergangenheit und den Moment, zu vergessen.

Der Mann raucht weder Rauschmittel noch Tabak. Er trinkt auch keinen Alkohol, zumindest habe ich noch nie mit einer Flasche Bier gesehen. Er zieht einen ausrangierten Plattenwagen hinter sich her, darauf lagert er sein ganzes Hab & Gut. Einen Plastiksessel. Eine Faltmatratze. Zwei Eimer, Karton, Decken, T-Shirts, Pullis, Bücher, Wasserflaschen. Der Mann hat einen jungen Hund, der ihm aufs Wort folgt. Der Kleine ist besser erzogen als die Tölen der Reichen, die von Hundesittern Gassi geführt werden. Sein Fell ist glänzend und gepflegt, das Halsband neu.

Eindrücke aus Ipanema

Bild: Waltraud Hable

Immer, wenn ich um acht Uhr früh laufen gehe, sind der Mann und sein Hund längst aufgestanden. Sie sitzen an der Strandpromenade und schauen aufs Meer hinaus. Hat es in der Nacht zuvor geregnet, liegen Schlafdecken und Kleidung in der Sonne zum Trocknen auf. Manchmal sehe ich, wie er sich mit Straßenhändlern unterhält, sie scheinen ihn zu respektieren.

Ich habe den Mann heimlich den ‚König von Ipanema' getauft.

Ich habe den Mann heimlich den „König von Ipanema“ getauft. Denn für mich ist er das. Er ist ein Held. Einer, dessen Disziplin, Ruhe und Lebenswille mich zu Tränen rühren. Der Einkaufswagen ist stets aufgeräumt. Der Gang des Mannes dynamisch und erstaunlich jung, er wirkt nicht wie ein gebrochener Mensch. Er steht jeden Morgen auf, egal wie kalt oder feucht oder laut die Nacht gewesen sein mag, füttert und streichelt den Hund, wäscht sich, kehrt seinen Schlafplatz, bereitet sich sein Frühstück zu, liest ein Buch, beschwert sich nicht, zumindest nicht lauthals.

In den Wochen, als niemand wusste, wie lange die Corona-Quarantäne dauern wird und alle mit Gesichtsmasken in den Supermarkt eilten, um Berge an Lebensmittel zu kaufen, saß er unmaskiert auf der gegenüberliegenden Straßenseite und studierte die Szenerie still und ruhig. Unsere Blicke trafen sich. Er nickte mir zu. So, als würde er mir sagen wollen: „Das übersteht die Menschheit auch.“

Unsere Blicke trafen sich. Er nickte mir zu. So, als würde er mir sagen wollen ‚Das übersteht die Menschheit auch.‘


Oft bauen wir Statuen aus Bronze von Menschen, die Kriege angezettelt, Schlösser gebaut oder irgendwelche wichtige Zeilen geschrieben haben. Aber die wahren Helden sind nicht auf dem Podest zu finden. Sie sind manchmal ganz unten. Und uns trotzdem in so vielem voraus.