In Partnerschaft mit

Obigen Satz habe ich vor Jahren in einem schlauen Buch gelesen. Und ich ahnte damals schon, dass er eine Wahrheit barg, die es für mich zu überprüfen galt. Irgendwo, irgendwann. Die Wahl fiel jetzt, mit 41 Lebensjahren, auf Kalkutta.

Dabei wollte ich um Indien eigentlich einen großen Bogen machen. Immerhin fand ich meine erste Reise, die mich von Delhi über Jaipur bis nach Kerala führte, maximal mühsam. Nach vier Wochen organisiertem Chaos, Dauer-Feilscherei und scheinbar suizidalen Rikscha-Fahrern hatte ich die Nase voll. Ich tat kund: nie wieder! Doch insgeheim wusste ich: Kalkutta steht noch auf der Liste, Indien-Aversion hin oder her.

Über das Sterbe- und Armenhaus von Mutter Teresa hatte ich schon als Kind Fernsehbeiträge gesehen, der Ort ließ mich nie los.

Anzeige
Anzeige

Und ja, ich weiß, um sich unsere Endlichkeit vor Augen zu führen, muss man nicht gleich nach Indien pilgern. Das Ganze kann man sich auch in jedem Geriatriezentrum oder mit der eigenen, seniorigen Verwandtschaft anschauen. Aber Kalkutta war für mich das Worst-Case-Szenario. Quasi das Schlimmste, was meinem zukünftigen Greisinnen-Ich passieren konnte. Im „Home of The Dying & Destitutes“ finden Menschen ein letztes Zuhause, die sonst auf den Straßen dahinvegetieren würden. Menschen, die keinen Besitz und auch keine Familie mehr haben.

Home of The Dying and Destitute

Home of The Dying and Destitute (Bild: Wikimedia Commons)

Wenn ich das emotional überstehe, dann haut mich so schnell nichts mehr um, dann bin ich gewappnet, dachte ich. Und beschloss, mich als freiwillige Helferin zu melden.

Mutter Theresa

Bild: Wikimedia Commons

Anzeige
Anzeige

Ein zweischneidiges Schwert. Denn das ist nicht nur eine Geschichte über Menschen am Ende ihres Lebens. Es ist auch eine Geschichte, bei der man an Begriffen wie „Misswirtschaft“ oder „Veruntreuung von Spendengeldern“ nicht vorbeikommt. Beides wird der katholischen Kirchenführung und dem Mutter-Teresa-Schwesternorden „Missionaries of Charity“ seit Jahren öffentlich vorgeworfen. Warum? Weil das Sterbehaus in Kalkutta trotz internationalem Spendenfluss noch immer wie zu seiner Gründung anno 1952 betrieben wird: spartanisch, ohne Waschmaschinen, Geschirrspüler oder krankengerechte Unterbringung.

100 Menschen, 50 Männer, 50 Frauen, siechen auf Feldbetten und auf engstem Raum dahin, viele davon ohne schmerzstillende Medikamente – weil das Leiden sie näher zu Gott bringe.

Ich hatte von den Vorwürfen im Vorfeld gehört. Und auch wenn ich insgesamt nur sechs Tage dort war, um Wäsche zu waschen oder mit den Patienten zu malen: An der Sache ist was dran. Das hat mich wütend und hilflos gemacht. Aber am Ende ging ich trotzdem weiter jeden Morgen hin. Nicht aus Sensationslust. Oder Mitleid. Sondern weil ich begriff: Das Einzige, was sich niemand widerrechtlich unter den Nagel reißen kann, ist meine Zeit. Und meine Menschlichkeit.

Von den Besitzlosen, Teilnahme & Liebe

Die Patienten im Sterbehaus besitzen nichts. Da ist kein Schmuckstück, kein Erinnerungsfoto im Nachtkästchen, es gibt gar keine Nachtkästchen, zwischen den Feldbetten ist kein Platz. Jeder kommt ohne Gepäck – und ohne Haare, die werden geschoren, zur Prävention von Läusen und Flöhen.

Akzeptiere bitte die Marketing Cookies, um diesen Inhalt zu sehen.

Cookie Einstellungen

Aber alle kommen mit Geschichten, die gehört werden wollen, auch wenn sie in Hindu oder Bengali sind. Krishna etwa, eine Dame um die 80 mit wachen, lustigen Augen, redete konstant auf mich ein. Sie gestikulierte so ausdrucksstark, bis ich auch ohne Sprachkurs verstand, was sie meinte:

Krishna hatte im Heim den Sitzplatz gewählt, von dem aus sie am besten ein Auge auf die geistig behinderte Rina und die blinde Ryansh haben konnte.

Die drei Damen waren keine Freundinnen, aber Krishna hatte zumindest das Gefühl, Rina und Ryansh geben ihr eine Aufgabe und einen Wert.

Oder Aaradhya. Von einem Schlaganfall linksseitig gelähmt und durch eine verkrümmte, buckelige Wirbelsäule vornüber gebeugt, hing sie in ihrem Rollstuhl und hatte aufgehört zu sprechen. Sie wirkte teilnahmslos. So, als hätte sie sich und die Welt längst aufgegeben. Bis ich sie fütterte. Plötzlich kam Leben in ihr Gesicht, ihre Kiefer mahlten mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte.

Als ich ihr den Mund abwischte, öffnete sie die grau-blinden Augen. Und ich weiß, in dem Moment hat sie auf ihre Art Danke gesagt.

Während meiner Zeit im Sterbehaus habe ich unzählige Hände gehalten. Manche drückten mich fest zurück, andere reagierten nur ganz schwach. Ich habe verknöcherte, abgemagerte Körper sanft massiert. Von Krätze geplagte Haut eingecremt. Zahnlose Münder gefüttert. Tränen getrocknet. Und versucht, das Leiden auszublenden. Nicht, um zu verdrängen. Sondern um Energie dafür zu haben, den Moment ein bisschen besser zu machen.

Bild: Getty Images

Als ich mit Leonore, einer jungen Turnus-Ärztin aus Lissabon, die ebenfalls als Freiwillige hier war, die frisch gewaschenen Nachthemden zum Trocknen aufhing, fragte sie mich: „Warum bist du hier? Was war deine Ursprungsmotivation?“ „Ich schätze, ich wollte mir vor Augen führen, dass der Tod zum Leben gehört und dass ich lernen muss, das zu akzeptieren“, sagte ich.

Leonore nickte nachdenklich. Dann sagte sie: „Ich bin hierhergekommen, um mein Herz für die Liebe zu öffnen.“ Und ich wusste, dass ihre Antwort die ehrlichere und die bessere war.
Weiter: In Kalkutta geht Waltraud an ihre Grenzen