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Gefühlt tausend Mal war Nina am Ufer gesessen und hatte dem Branden des Meers zugehört; wie das Wasser den Kies heranschob und mit sich nahm. Murmelnd hatte es ihre Gespräche und manchmal auch ihr Schweigen untermalt.

Sie und Ivica waren gut darin gewesen, miteinander zu schweigen. Wozu sprechen, wenn das Meer so viel besser und gewaltiger ausdrückte, was sie nicht in Worte zu fassen vermochten? Der Großteil der tausend Mal spielte sich in Ninas Träumen ab. Denn Ivica war nicht mehr.

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Es war Ninas letzte Reise nach Kroatien. Das kleine Haus an der dalmatinischen Küste, das sie zu einem Schmuckstück hergerichtet hatten, stand zum Verkauf. Sie war gekommen, um ihre privaten Sachen auszuräumen. Ohne Ivica mochte sie nicht mehr hier sein.

Jede Ecke erinnerte sie an goldene Tage und warme Nächte, an seine tiefe, raue Stimme. An seine Umarmungen. Der Mond stand über der Bucht. Ein Blutmond, wie man ihn sonst nur im Sommer kannte, prall und von kürbisfarbenem Orange.

Jetzt war es Winter, und die Bora, der kalte, von den Bergen kommende Fallwind, riss an ihrem Haar. Nina schluckte an dem Kloß im Hals, grub die Finger in den Kies. Etwas drückte sich in ihre Handfläche, hart und doch schmeichelnd.

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Sie hob den Stein auf. Er war von den Wellen gerundet, vom Salz gebleicht und in der Mitte tief eingeschnitten. Ein Liebesgruß von Ivo? Nur er hatte um ihre Passion für Steine gewusst, besonders die, die wie Herzen aussahen.

Zu Hause in Deutschland lagen etliche solcher Steine auf der Fensterbank, in allen Farben und Beschaffenheiten, aus vielen Ländern der Erde. Aber keiner war so glatt, so perfekt geformt wie dieser. Sie legte den Stein auf den Nachttisch. Nina schlief tief und traumlos, zum ersten Mal seit Monaten.

Als sie am Morgen aufwachte, fiel ihr erster Blick auf das steinerne Herz. Es schimmerte, von einem zartgoldenen Sonnenstrahl geküsst, der durch die Läden fiel. Sie gab dem Herz einen kleinen Stups. Es drehte sich, tanzte einen Moment und lag dann wieder still.

Heinrich, der Wagen bricht. Eine Stimme in ihrem Innern gab die Antwort ‚Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.‘

Unwillkürlich musste Nina lächeln. Als sie, auf dem Bett sitzend, die Stiefel anzog, ruckelte der Stein, als ob er sagen wollte: Nimmst du mich mit? Sie konnte nicht anders, lachte laut auf. Ein wenig erschrak sie vor dem ungewohnten Laut, er klang so fremd. Wie lange hatte sie nicht mehr gelacht?

Was sie aber verwunderte, war eine Leichtigkeit, die sie verspürte. Es war, als ob ein Druck von ihr abfiele, wie in dem Märchen vom Froschkönig. Heinrich, der Wagen bricht. Eine Stimme in ihrem Innern gab die Antwort: Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.

Aus einem Impuls heraus steckte Nina den Stein in die Jackentasche. Sie würde ihn auf der Mole ablegen. Das steinerne Herz – und Ivo – dem Meer zurückgeben. Der Gedanke gefiel ihr. Außer ihr war kein Mensch unterwegs.

Nina hielt sich nicht lange an der Mole auf, es war zu ungemütlich. Sie folgte dem mit Bruchplatten belegten Weg, die Küstenlinie entlang, ins Dorf. Die Luft war kalt, aber wundervoll. Nina sog den Duft von Pinien und Salz auf, genoss den Wind, der ihr Gischttröpfchen und die Haare ins Gesicht wehte.

Der Einkauf war schnell erledigt. Sie suchte Brot, Pršut, schwarze Oliven, ein Stück würzigen Pager Käses zusammen und nahm zwei Flaschen Wasser aus dem Kühlregal. Nach einigem Überlegen packte sie noch eine Flasche Pošip Kraljevski in den Korb.

Mit einem gemurmelten Bok! erwiderte Nina den freundlichen Abschiedsgruß der Kassiererin und drückte sich durch die Tür. Sie hatte nicht die Absicht, wiederzukommen.

Vollendung

Vollendung

Eine carpe diem Gute-Nacht-Geschichte zum Einkuscheln, Ankommen und Träumen von Christiane Tauzher. Weiterlesen...

Auf der obersten Stufe des Café Moro saß Zlatan. Er rauchte, in seine abgetragene Jacke gehüllt und in die Morgenzeitung vertieft. Als sie vorbeiging, sah er hoch. „Nina! Moja cura!“ Im Aufstehen fing er geschickt das Espressotässchen ab, das auf seinem Knie geruht hatte.

„Du bist hier! Ich hatte keine Ahnung.“„Kapetan“, grüßte sie den alten Freund und ließ sich in eine Umarmung ziehen, ignorierte die neugierigen Blicke des Fremden, der in dem kleinen Innenraum an der Theke stand. Sie hatte sich vor dem Treffen mit Zlatan gefürchtet, doch jetzt fühlte sie sich willkommen.

Wider Erwarten freute es sie, „mein Mädchen“ genannt zu werden. Einen Augenblick später stand Nina im Warmen. Zlatan schob ihr einen bijela kava hin. Milchkaffee, stark und schaumig-süß, genau, wie sie ihn liebte. „Ich fahre heute Nachmittag mit dem Boot raus, das Wetter soll besser werden. Dane will nach Sutomišćica. Vielleicht hast du Lust mitzukommen.“

Der Fremde drehte sich um, als er seinen Namen hörte. „Lieber nicht. Zu viele Erinnerungen“, wehrte sie ab, wich dem forschenden Blick aus. Der Mann war groß und schlank, etwa in ihrem Alter.

Seine Haare waren lässig nach hinten gekämmt, von attraktivem Grau durchzogen. Er trug Jeans und eine Lederjacke, darunter einen Hoodie mit Kapuze. Das verwaschene Blau stand ihm unverschämt gut. Und der Mann drehte einen Stein in der Hand. Das Schimmern irritierte sie, abrupt machte Nina einen Schritt auf ihn zu.

„Woher haben Sie den?“ Ihre Stimme klang schrill, und für einen Moment war sie selbst von der Schärfe irritiert.

Im selben Moment, in dem sie dem Unbekannten ihren Zorn entgegenschleuderte, spürte Nina, wie ihr brennendes Rot ins Gesicht stieg.

Der Mann legte die Hand über den Stein, als ob er ihn schützen wollte. „Er ist geformt wie ein Herz. Hübsch, nicht wahr?“, sagte er leichthin. „Das ist meiner!“ Im selben Moment, in dem sie dem Unbekannten ihren Zorn entgegenschleuderte, spürte Nina, wie ihr brennendes Rot ins Gesicht stieg.

Der Mann, der Dane hieß, lachte. Weiße Zähne blitzten auf. Er stellte den Stein auf die Spitze und ließ ihn kreisen. „Er ist besonders, nicht wahr?“ Er ergriff ihre Hand und schloss sie über dem Herz: „Hier, ich schenke ihn dir.“ Nina war wie elektrisiert, der Stein war glühend heiß und schien in ihrer Handfläche zu summen.

Die Berührung seiner Finger war nicht unangenehm, ja, sie fühlte sich sogar seltsam vertraut an. Dennoch zuckte sie zurück, wie von einer Tarantel gebissen. „Er gehört mir bereits. Und ich finde das nicht witzig.“

Braune Augen, dunkel wie flüssige Schokolade, sahen sie voller Belustigung an. „Wie kann dir etwas gehören, was ich am Strand gefunden habe? Viel eher ist doch die Frage, warum?“ Sein Lächeln erwärmte Ninas Herz auf eigenartige Weise. Ein weiteres Band fiel.

Heinrich, der Wagen bricht? Aber nichts brach. In ihr war nur ein Anbranden, ein Auf und Ab; eine Welle, die durch sie hindurch lief wie das Rauschen der Kiesel. „Ich bin Dane“, sagte er, fuhr mit der Hand durch sein Haar und strich sich verlegen eine Locke aus der Stirn. Nina antwortete nicht. Nickte nur, vom Ansturm ihrer Gefühle verwirrt.

Irgendwie hatte der Mann es geschafft, das Bollwerk zu durchbrechen, das sie um ihr Herz aufgetürmt hatte. Sie legte die zitternden Hände um die Tasse und nahm einen hastigen Schluck, verbrannte sich die Zunge und sog scharf die Luft ein. Seine Mundwinkel zuckten, und er tat einen Schritt zur Seite.

Nur ein paar Zentimeter, aber die kleine Geste gab ihr den nötigen Raum, damit sie wieder atmen konnte. Der Herzstein ruhte auf der Theke, von einem Glanz erfüllt, der nicht von der Morgensonne herrührte. Er schien zu vibrieren. Sie hätten ihn beide berühren können – doch sie taten es nicht.

Für einen Moment fanden sich ihre Blicke über dem steinernen Herz. Und etwas floss zwischen ihnen. Im Leben eines jeden Menschen gibt es magische Augenblicke. Manchmal ruht die Magie in einem Stein – bis jemand kommt, der sie weckt. Später hätte Zlatan nicht ein Wort wiederholen können, das an seiner Theke gewechselt worden war.

Mit einem verschmitzten Lächeln sah er zu, wie Dane und Nina das Café Moro verließen, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Am Ende der Mole lagen zwei Herzsteine. Zwillingsgleich, von der Gischt überspült und im Licht des winterlichen Blutmonds schimmernd.

Zwei Menschen saßen im Kies, in ihre Jacken eingemummelt, tranken Wein und redeten. Manchmal schwiegen sie auch. Dann sprach das Meer für sie.

Die Autorin Mignon Kleinbek, 58, lebt in Ötisheim im badenwürttembergischen Enzkreis. Nachdem sie bereits zwei erfolgreiche Fachbücher verfasst hat, ist 2021 ihre erste Belletristik, die Trilogie „Wintertöchter“, im Pinguletta Verlag erschienen.

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