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Es war einmal in einer Nacht wie dieser, in einem Knusperhäuschen nicht fern von hier, da erwachte die Hexe schweißgebadet. Ihr Puls raste, und doch lastete die Bettdecke so schwer auf ihr, dass sie nicht aufstehen konnte. Sie sah auf die Uhr: Es war kurz nach drei. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, und an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Hatte sie alle schlimmen Kinder eingefangen, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt worden waren? Hatte sie die Tröge der angeketteten Kinder nochmals mit Chips und Cola aufgefüllt?
Bei Tag betrachtet lief ihr Business hervorragend. Es gab genug ungezogene Kinder, die im Wald ausgesetzt wurden, und ihr Onlineshop für vergiftete Früchte war dank der Zunahme an Veganern sehr gefragt. Doch bei Nacht quälten sie die Angstattacken, etwas Wichtiges übersehen zu haben oder das alles schlichtweg nicht mehr zu schaffen.

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Hatte sie die Tröge der angeketteten Kinder nochmals mit Chips und Cola aufgefüllt?

Als der in einen Gockel verwandelte Märchenprinz gegen fünf zu krähen begann, zog sie sich die Decke über den Kopf und wollte weinen – so müde war sie. Sie musste aufstehen, aber sie konnte sich einfach nicht überwinden, bis ihr der Rabe das hektisch blinkende Smartphone auf die Brust fallen ließ. Stöhnend las die Hexe die Bestellungen, die über Nacht im Onlineshop eingegangen waren. Sie kopierte sie auf ihre To-do-Liste und stellte fest, dass diese Liste das Allermagischste im ganzen Knusperhäuschen war: Egal wie viel sie erledigte, die Liste wurde bloß länger und länger.

Sie stellte fest, dass ihre To-do-Liste das Allermagischste im ganzen Knusperhäuschen war Egal wie viel sie erledigte, die Liste wurde bloß länger und länger.

Im Morgenmantel ging sie hinüber ins Verlies, wo sie die schlimmen Kinder mästete. Eines nach dem anderen stellte sie auf die Waage, maß Bäuche und Oberschenkel, wo die Kinderlein den feinsten Speck hergaben; und nachdem sie ihnen Schokolade und besonders süße Milchshakes gefüttert hatte, setzte sie sich an den Computer. Während sie E-Mails beantwortete, knabberte sie an vom Vorvortag übrig gebliebenen Froschschenkeln. Wann hatte sie zuletzt etwas Frisches gegessen? Geschweige denn selbst gekocht?

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Der schwarze Kater schmiegte sich schnurrend an ihre Beine.
„Ich kraul dich später“, sagte die Hexe, woraufhin er auf den Schreibtisch sprang und säuerlich maunzte.
„Es ist zum Verrücktwerden, kaum habe ich eine Mail geschrieben, sind drei neue eingegangen“, klagte sie ihm. Doch der Kater miaute weiter nach Aufmerksamkeit.
„So kann ich mich nicht konzentrieren!“, sagte die Hexe, griff nach ihrem Zauberstab und schwang ihn, bis der Kater sprechen konnte. „Steckt dir Mäusegewöll im Hals?“
„Die Spatzen meinen, es wird sonnig“, sagte der Kater. „Setz dich mit mir nach draußen, auf deinem Schoß ruht es sich bequemer.“
„Ich hab hier vierzig unbeantwortete Mails, im Wald laufen etliche ausgesetzte Kinder herum, und im Verlies haben drei das richtige Bratgewicht erreicht.“
Genüsslich reckte sich der Kater.
„Warum tust du dir das alles an?“, fragte er schließlich.
„Weil ich muss.“
„Musst du wirklich? Oder denkst du das bloß?!“, sagte er und betrachtete seine Krallen. „Musst du wirklich jede einzelne E-Mail ausführlich und postwendend beantworten? Früher, als man noch Telegramme per Raben verschickt hat, ist die Welt auch nicht untergegangen. Und freilich: Deine gerösteten Kinder sind die gefragtesten. Aber was bringt es, sich so abzurackern, wenn du die Früchte deiner Mühen nie genießen kannst?“

Deine gerösteten Kinder sind die gefragtesten. Aber was bringt es, sich so abzurackern, wenn du die Früchte deiner Mühen nie genießen kannst?

Die Hexe blickte verlegen um sich. Als sie in ihr Knusperhäuschen eingezogen war, hatte sie sich vorgenommen, es ihren Träumen entsprechend einzurichten. Mit stilvollem Mobiliar, auf das die anderen Hexen neidisch wären, wenn sie zum Brunchen kämen. Doch für die Suche nach dem perfekten Totenschädel-Regal und der idealen Zauberkessel-Beleuchtung hatte sie genauso wenig Zeit gehabt wie für das Ausrichten eines Brunchs. Irgendwann hatte sie sich an das Provisorium, das an der Wand vor sich hin moderte, ebenso gewöhnt wie an die russischen Glühbirnen.

„Darf ich dir einen Rat geben?“, fragte der Kater und wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. „Mach dir bewusst, dass du nicht die einzige Hexe auf der Welt bist, die unartige Kinder rösten kann. Die Welt geht nicht davon unter, wenn du dir hin und wieder freinimmst. Gehst du hingegen entspannt und fokussiert an die Arbeit, wirst du sie besser machen, während es dir besser geht.“

Mach dir bewusst, dass du nicht die einzige Hexe auf der Welt bist, die unartige Kinder rösten kann.

Die Hexe gab es ungern zu, doch der Kater hatte recht. Seit langem hatte sie nur noch versucht, ihr Arbeitspensum zu erledigen, aber nicht mehr darüber nachgedacht, ob sie die Würzmischungen verfeinern oder die Fleischqualität verbessern konnte. Wann hatte sie zuletzt ausgeschlafen? War shoppen gewesen? Hatte einen Tag lang einfach nichts gemacht? Schließlich stand die Hexe auf, öffnete die Verliese und entließ die verwirrten Kinder in die Freiheit.

„Heute ist euer Glückstag“, kicherte sie. „Hier wird erst wieder geröstet, wenn ich mich ein wenig gesammelt habe!“ Eilig nahmen die gut angefütterten Kinderlein ihre Speckbäuche in die Hände und rannten mit hochroten Köpfen davon.

Und wenn sie nicht gestorben sind (und die Hexe weiterhin auch auf sich selbst Rücksicht nimmt), dann leben sie noch heute.

Vea Kaiser wurde 1988 geboren und lebt in Wien. Ihre drei Romane „Blasmusikpop“ (2012), „Makarionissi“ (2015) und „Rückwärtswalzer“ (2019) sind Bestseller. Vea Kaiser studierte Altgriechisch und Latein, ist verheiratet, Anhängerin des SK Rapid, leidenschaftliche Hobbyköchin und Frauli eines Jack Russell Terriers. Hör dir hier unseren Podcast mit Vea Kaiser an!