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Ich breche wieder auf. Ich kann es kaum glauben. In wenigen Tagen wird mein Koffer gepackt, die Rollen sind schon geölt und nach fünfeinhalb Monaten Corona-Zwischenstopp in Brasilien muss ich mich wehmütig von meiner Herzensstadt Rio de Janeiro verabschieden. Ich gehe zurück in ein Leben, das kein Zuhause, sondern nur neue Ziele kennt.

Ich gehe zurück in ein Leben, das kein Zuhause, sondern nur neue Ziele kennt.

Der erste Stopp wird ein Besuch bei meiner Familie sein, anschließend düse ich für ein paar Wochen nach Griechenland. Und danach? Das wissen derzeit nur die Reisegötter. Ich bin jetzt schon gespannt, wie der Nomadenalltag sich gestalten wird. Anders auf jeden Fall. Die Airline, die mich über den Atlantik bringen soll, schreibt mir bereits täglich E-Mails, was am Tag meines Abflugs mitzubringen ist. Ich möge so viele Gesichtsmasken im Handgepäck führen, dass ich diese alle vier Stunden wechseln kann. Obendrein ist ein Gesundheitsformular auszufüllen. Und bitte: Desinfektionsgel! Ein negativer Testbescheid! Wenig Handgepäck! Und. Und. Und.

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Bin ich sozial noch kompatibel?

Die Logistik des Unterwegsseins, die werde ich lösen können. Was mir mehr Kopfzerbrechen bereitet: Bin ich sozial noch kompatibel? Wenn man über ein Jahr alleine unterwegs ist und vor allem eine Quarantäne in einem Land hinter sich hat, dessen Sprache man nur minimalst spricht, dann kann man sich schon mal fragen: Hat mich das Ganze verändert? Ist es normal, dass plötzlich alles an einem speziellen Platz stehen muss, oder haben sich da ein paar klitzekleine Einsiedler-Neurosen eingeschlichen?

Kurz: Ich habe beschlossen, vor meinem Abflug noch die Probe aufs Exempel zu machen. Socialising für Wiedereinsteiger, quasi. Und ein Kandidat für das Experiment war schnell gefunden. Über eine Internet-Gruppe fand ich heraus, dass sich offenbar ein anderer Weltreisender in Rio befand. Ein radfahrender Globetrotter, der, so wie ich, die Pandemie in Brasilien ausgesessen hatte. Diese Info machte mich euphorisch. Ich konnte zwar während des Lockdowns immer mit Freunden daheim telefonieren, aber wirklich verstehen, wie es einem in so einer Situation geht, das konnten sie nicht.

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Aber ich wollte den Kerl ja nicht ehelichen, sondern nur reden.

Wenig später war ich auch schon mit Ajay verabredet. Schmächtige Figur, verhaltenes Lächeln, nicht mein Typ. Aber ich wollte den Kerl ja nicht ehelichen, sondern nur reden. Doch Letzteres brachte mich mitunter an meine Grenzen. Und ich sag’s gleich: Es lag nicht an mir. Zumindest rede ich mir das jetzt mal so ein. Egal, welche Frage ich Ajay auch antrug, mit jeder schien ich etwas falsch zu machen. „Wie lange bist du schon in Rio? Auch seit fünf Monaten?“, fragte ich. „Ach … Zeit“, kam dramatisch seufzend zurück.

„Was bedeutet schon Zeit? Eine Minute … vier Monate. Ist das nicht einerlei? In beiden Fällen kann alles und nichts passieren.“ – „Ich frage ja nur deshalb, weil wir offenbar im selben Land in eine nicht ganz alltägliche Situation geraten sind“, stammelte ich. „Ich habe aufgehört, mich über Zeit zu definieren“, blieb Ajay mir eine Antwort schuldig. Aber zumindest ließ er mich wissen, dass seine Loslösung vom klassischen Zeitgedanken einem Studium der Astrophysik in London und seiner indischen Herkunft zu verdanken ist. Als Inder ist man offenbar per Geburtsrecht erleuchtet. War mir so vorher auch nicht klar.

Als Inder ist man offenbar per Geburtsrecht erleuchtet.

„Du entdeckst mit dem Fahrrad die Welt, richtig?“ Neuer Versuch. „Ja und nein. Das Rad wurde mir gestohlen.“ – „Wirst du dir ein neues kaufen? Oder steigst du auf ein anderes Transportmittel um?“, fragte ich. „Ich muss erst emotional für mich klären, ob das Rad mich als Reisenden definiert.“ So ging es viele Minuten lang. Gegenfragen kamen keine. Probleme dafür am laufenden Band. Der Cocktail sollte bitte nicht in einem Whiskeyschwenker angerichtet werden, sondern in einem langstieligen Martini-Glas. Und statt Passionsfrucht bitte Ananas.

„Die Drinks hier sollen alle sehr gut sein. Lass dich überraschen“, versuchte ich zu vermitteln. Ajay sah mich an, als hätte ich ihm soeben vorgeschlagen, das Wasser aus der Toilette zu trinken. „Ich will ein Getränk, das meinen Vorstellungen entspricht. Das Leben ist zu kurz für Kompromisse.“ – „Wie hast du es mit dieser Einstellung bisher durch die Welt geschafft?“, raunte ich und zog die Augenbrauen hoch.

Nach zwanzig Minuten gab ich auf und verließ die Szenerie. Der halb ausgetrunkene Wein blieb ebenso am Tisch zurück wie ein verdatterter Ajay. Er hatte recht. „Das Leben ist zu kurz für Kompromisse.“ Ich hatte befürchtet, ich wäre während des Lockdowns neurotisch geworden, aber Ajay schien’s schlimmer erwischt zu haben, er hatte offenbar die Meisterklasse während der Quarantäne absolviert.

Soll heißen: Das Treffen mag nicht so verlaufen sein, wie ich mir das vorgestellt habe. Aber ich hatte zumindest so viel Selbstliebe und Selbstrespekt in mir, dass ich am Ende doch noch einen schönen Abend hatte. Ich kochte mir Spaghetti und war sehr zufrieden mit mir selbst. Ich schätze, ich bin ich bereit, wieder auf die Welt losgelassen zu werden.

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