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Als die Welt zum Stillstand kam, wurde es bei mir laut. Mein Handy klingelte und piepte im Minutentakt. „Du bist in Rio de Janeiro?“, wurde ich gefragt. „Ja“, sagte ich und wollte vom herrlichen Wetter und von meiner morgendlichen Joggingrunde an der Strandpromenade in Ipanema erzählen. Doch so weit kam ich gar nicht. „Brasilien? Ernsthaft jetzt? Da ist doch dieser komische Präsident ...“ – „Stimmt.“

Ich bekam Faktenmonologe zu hören, Medizingurus wurden zitiert. Am Ende schlossen alle mehr oder weniger mit demselben Satz: „Komm heim, sei vernünftig. Oder sitz die Sache wenigstens irgendwo in Europa aus, da ist das Gesundheitssystem besser – du bist schnell im sicheren Hafen, wenn was ist.“ Ich antwortete immer gleich, nämlich mit einem sturen „Nein“. Dann schaltete ich mein Handy stumm und sagte zu mir: „Ich werde diese Situation zum Besten machen, was meinem Leben passieren konnte.“

Ich werde diese Situation zum Besten machen, was meinem Leben passieren konnte.

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Vorweg: Auch wenn ich zum Schutz der Weltgesundheit künftig einen Gang runterschalten und meine Route ändern muss, ich werde meine Weltreise nicht abbrechen. Ich finde, das wäre auch das falsche Signal. Denn was ist ein „sicherer Hafen“ in einer Zeit, in der wir alle denselben Sturm durchleben? Klar, man kann Grenzen schließen, Regionen als „sicher“ und „unsicher“ deklarieren, aber das ändert nichts an der Tatsache: 7,8 Milliarden Herzen tapsen gerade gleichermaßen auf neuem Terrain herum.

Als Weltbevölkerung sind wir mehr denn je miteinander verbunden, wir sind alle gleich und am Ende gleich verletzlich. Die vietnamesische Nudelfrau, die in den Straßen von Hanoi mit ihrer mobilen Garküche Pho-Suppe verkauft. Meine Wenigkeit. Der Kleinganove in Mumbai. Die PR-Managerin in Neusiedl. Wir alle werden in den nächsten Monaten noch dieselben Fragen und Sorgen haben. Und Sorgen werden bekanntlich leichter, wenn man sie teilt.

Wenn ich fürs Erste in Rio bleibe, verliert mein Vermieter kein Einkommen, der lokale Bauernmarkt profitiert von meinen Einkäufen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, ich weiß. Aber viele Tropfen ergeben irgendwann einen Wasserfall.

Ich beobachte, wie die Bevölkerung auf der linken und der rechten Seite des Atlantiks mit Herausforderungen umgeht. Irgendwie mag ich die hiesige Herangehensweise mehr, es scheint, hier wird mehr gelächelt. Ich verstehe zwar nicht alles, was um mich passiert – dazu ist mein Portugiesisch zu schlecht –, aber ich finde mich zurecht. Auf Reisen lernt man zu jonglieren, flexibel zu sein, man hat ständig unüberschaubar viele Bälle in der Luft, man kann sich nicht mit der Zukunft quälen, weil im jeweiligen Moment gerade zu viel passiert.

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Auf Reisen lernt man zu jonglieren, flexibel zu sein, man hat ständig unüberschaubar viele Bälle in der Luft ...

Seit die Welt zum Stillstand kam, müssen alle jonglieren, auch die, die das nie lernen wollten. Und hey, seien wir mal ehrlich: Wir sind schon richtig gut darin. In jeder Veränderung stecken wunderbare Chancen. Ich für meinen Teil habe ein paar Dinge gelernt, für die ich bis zu meinem Lebensende dankbar sein werde. Wenn man allein in Brasilien hockt und die Zeitverschiebung das Reden mit lieben Menschen unmöglich macht, dann braucht man einen Plan. Meiner lautet: Ich gebe meinen Sorgen keine Chance.

Ich gebe ihnen einen Timer. Eine Eieruhr, die ich in der Küchenlade meines gemieteten Apartments gefunden habe, entpuppte sich als Heilsbringer. Es kann aber auch die Countdown-Funktion am Handy sein. Oder die Zeit, die es braucht, bis ein Eiswürfel im Glas schmilzt. Nach dreißig Minuten – das ist mein persönliches Maximum – sage ich mir: „Gratulation, dein heutiges Soll ist ausgereizt. Morgen ist auch noch ein Tag, um dich wahnsinnig zu machen und über Lösungen nachzudenken.“

Anschließend lege ich den Schalter im Kopf von „Alarmrot“ auf „Grün wie die Hoffnung“ um – ich schwöre, dieses Visualisieren hilft tatsächlich. Ich bringe mein Hirn auf andere Gedanken, indem ich es lernen lasse: Ich experimentiere mit Haargel aus gesottenen Leinsamen, koche gefährlich scharfe Chiligerichte, fordere mich beim Sport. Und ich schreibe.

Ich bringe mein Hirn auf andere Gedanken, indem ich es lernen lasse.

Schreiben ordnet die Gedanken, vor al­lem aber hält es einem einen Spiegel vor. Wenn man tagelang dasselbe Genörgle von sich liest, dann schämt man sich ein bisschen über die eigene Untätigkeit und das Suhlen im Selbstmitleid, ergo ändert man schneller etwas. Außerdem lässt sich niedergeschrieben die Angst leichter se­zieren – in jeder Furcht steckt nämlich potenziell auch Weisheit. Die Fragestel­lung lautet: Sind Leib und Leben akut bedroht? Oder geht’s nur meinen Ge­wohnheiten oder Neurosen an den Kra­gen? Ich wette, in 99,9 Prozent der Fälle lautet die Antwort: „Ähem, Letzteres.“

Auch keine unwichtige Erkenntnis fürs Leben bescherte mir die Sache, die mir in der Obstabteilung eines brasilianischen Supermarkts passierte, zwischen Mangoturm und Passionsfruchtpyramide. Es begann damit, dass ich ein bisschen ent­setzt von mir selbst war. Ich war einem asiatischen Typen großflächigst ausge­wichen, während mir ein Meter Sicherheitsabstand für die umstehenden Brasi­lianer völlig ausreichend schien.

Je mehr ich mir dieser absurden Ver­haltensweise bewusst wurde, desto besser verstand ich: Dieser Tage werfen wir uns alle viel zu schnell komische oder vor­ wurfsvolle Blicke zu. Wahrscheinlich weil die Grenzen, die geografisch und juristisch gezogen werden, unbewusst auch in unsere Köpfe vorgedrungen sind. Dabei ist das, wovor wir uns schützen möchten, unsichtbar. Der Mensch ist nicht das Problem, er ist Teil der Lösung.

Der Mensch ist nicht das Problem, er ist Teil der Lösung.

Nach dem Supermarkt ging ich nach Hause, um meine 85­jährige Oma anzurufen. Sie hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, sie weiß, wo kollektives Miss­trauen hinführen kann. Es tat wohl, mit ihr zu sprechen, obwohl die Gute mittler­ weile recht schwerhörig ist. Dreimal musste ich meine Rede wiederholen, aber vielleicht war diese Repetition nicht ein­ mal so schlecht, um zu verstehen, worum es wirklich geht: Angst, Panik, Lachen, Mitgefühl, Liebe oder Empathie sind ge­nauso ansteckend wie ein Virus. Es liegt an uns, was wir weitertragen wollen.

So, und bevor das in einem Weisheiten­ gewäsch endet, noch schnell etwas Prak­tisches, was ich aus der neuen Situation mitnehme: Ich brauche, wenn ich groß und reich bin, ein Haus in der Natur. Irgendwas im Grünen. Garten. Seeblick. Meer. Mein Bankberater wird sich, wenn er diese Zeilen liest, an den Kopf greifen. Eigentum erwerben und Erspartes auf Weltreise verblasen gehen nun mal schwer zusammen, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen, nur so kann das Universum seine Arbeit machen.

Wobei, die Unterkunft ist eigentlich Nebensache, was ich wirklich will, ist hundert Prozent mehr Zeit in der freien Natur. Das war mir als deklarierter Stadtpflanze in dieser Form vorher nicht klar. Selbst wenn alles wegbricht: Die Natur ist weiterhin da. Und sie ist aufs Geben ausgerichtet, nicht aufs Nehmen. Stundenlang bin ich in den vergangenen Wochen die tosende Atlantikküste entlanggejoggt. Den Blick auf die Brandung zu richten statt auf den Nachrichtenbildschirm hat nicht nur meine Augen entlastet, sondern vor allem meine Seele.

Die Natur ist weiterhin da. Und sie ist aufs Geben ausgerichtet, nicht aufs Nehmen.

Den Baum vor meinem Fenster habe ich lange ignoriert. Bis es regnete. Da begriff ich: Der Baum und, wo wir schon dabei sind, auch das Basilikumstöckchen auf dem Fensterbrett und die Orchidee auf meinem Couchtisch – sie alle haben dasselbe magische Potenzial wie das Meer. Sie alle führen dich aus deiner Blase hinaus in ein Paralleluniversum. Du musst nur hinschauen, richtig hinschauen, dich in das winzigste Detail verlieren, das ist der Trick. Erst war der Baum nur ein Baum mit großen Blättern. Eine Feige? Eine Magnolie? Mittlerweile weiß ich, es ist ein Seemandelbaum, wahrscheinlich um die zwanzig Jahre alt. Seine Arme sind stark und weit ausgestreckt, sie müssen auch kräftig sein, immerhin bauen Vögel, Eichhörnchen, Raupen, Spinnen und Insekten darauf ihr Häuser.

Als mir die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, öffnete ich das Fenster und berührte ein Blatt, das die Hausmauer streifte. Und ich begann zu verstehen: Ein Baum ist etwas ausgesetzt, das man als Fluch und Segen interpretieren mag. Er kann niemals weglaufen, was immer auch passiert. Wird er verletzt, bleibt er hier und versucht sich so gut wie möglich selbst zu heilen. Er mag Hindernisse in den Weg gestellt bekommen, aber er wächst an diesen oder um sie herum.

Ich habe den Seemandelbaum und seine Bewohner vor meinem Fenster sicher eine gute halbe Stunde studiert, ohne auch nur einmal auf mein Handy zu blicken. Der Sinnspruch „In der Natur brauchst du kein Wi-Fi, du bist und fühlst dich auch ohne Internet verbunden“, der hat schon was.

In der Natur brauchst du kein Wi-Fi, du bist und fühlst dich auch ohne Internet verbunden.

Insofern werde ich meine Route nicht nur wegen neuer Grenzbestimmungen ändern, sondern auch wegen neu formierter Wünsche in mir selbst. Dabei geht es mir gar nicht um spektakuläre Naturregionen (ich muss weder die Gletscherhöhlen in Island noch das Glühwürmchenspektakel in Neuseeland sehen – wobei sicher beides nett ist!), ich werde nur ein bisschen abseits der Pfade gehen, die ich sonst gewählt hätte. Und ich werde die Bäume am Wegesrand vom Seemandelbaum in Rio grüßen lassen. Sie werden sich freuen. Denn es gilt auch hier: Alles ist verbunden, wir sind alle eins.