338 Facebook-Freunde hat jedes Mitglied im Schnitt. Das sind um 188 Sozialkontakte mehr, als eine Einzelperson pflegen kann. Das hat der Psychologe Robin Dunbar ja gut erforscht. Sprengen soziale Medien die Grenzen der Wissenschaft – oder die der Freundschaft?
„Dr. Janosch Schobin: Weder noch. Die Dunbar-Zahl besagt ja nicht, dass wir nicht mehr als 150 Freunde haben dürfen. Sie besagt, dass wir kognitiv nicht in der Lage sind, mehr als 150 individualisierte Freunde zu haben. Also Freunde, deren Namen, Charakter und persönlichen Hintergrund wir kennen. Alle Beziehungen, die darüber hinausgehen, sind dieser Theorie zufolge keine Unikate mehr, sondern werden von uns schematisch in Gruppen organisiert. Das ist so. Auch wenn soziale Medien viel dafür tun, um uns das Gegenteil zu suggerieren.“

Soziale Medien bluffen also? Wie gehen sie da vor?
„So eine typische Funktion ist die Geburtstagserinnerung. Wenn wir unsere Glückwünsche posten, tun wir situativ so, als hätten wir zu dieser Person eine Individualbeziehung. Auch der gesamte Content unserer Facebookfreunde, den wir laufend häppchenweise konsumieren, trägt zur Suggestion bei, diese Menschen besser zu kennen. (Anm.: Man spricht in diesem Fall von „ambient awareness“, dem digitalen Phänomen der gefühlten Nähe zwischen räumlich getrennten Menschen.)

Heißt das, dass sämtliche Onlinefreundschaften nur Schall und Rauch sind?
„Das heißt, dass bei Facebook und Co viel geheuchelt wird. Was aber okay ist, weil ja alle heucheln – und jeder sich dessen bewusst ist. Die Summe dieser 338 Freunde ist quasi das Publikum für die Freundschaft mit ein paar wenigen, die sich darunter befinden. Alle haben das gleiche Label, aber nicht die gleiche Funktion.“

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Freundschaft

Was ist eigentlich echte Freundschaft?

Freunde bauen füreinander ein Schloss auf ihrem Lieblingsbaum, sie teilen das letzte Stück Käse, gehen Hand in Hand durchs Dschungeldickicht, trotzen jedem Ungeheuer, schweigen zusammen und erzählen sich alles. Freunde sind überlebenswichtig. Weiterlesen...

Welche Funktion haben denn unsere Facebookfreunde?
„Sie dienen unserem Statuserhalt. Das ist per se nichts Neues, das war schon im 16. und 17. Jahrhundert eine wesentliche Freundschaftspflicht. Bei Hofe war die Sicherung des eigenen hierarchischen Ranges stark von der sozialen Unterstützung Gleichgestellter abhängig, sogenannter Höflingsfreunde. Und Bürgerliche haben die Flaniermeilen genutzt, um sich miteinander zu zeigen. Was extrem spannend ist: Noch vor zwanzig Jahren hätte kein Mensch geglaubt, dass dieses vormoderne Register von Freundschaft, dieses Kuratieren und Ausstellen, jemals wieder so prominent werden könnte.“

Warum? Was haben Freunde in der Zwischenzeit miteinander gemacht?
„Die Freundschaft war bis Mitte des 20. Jahrhunderts einem starken Strukturwandel unterworfen. Sie wurde zu etwas Privatem, Intimem. Es war unüblich und schon gar nicht notwendig, sich öffentlich zu zeigen. Die Funktion von Freunden ist damals stark in Richtung Orientierung, Gespräche, seelische Unterstützung gegangen.

Ein bisschen Freundschaft ist mir mehr wert als die Bewunderung der ganzen Welt.

Otto von Bismarck, deutscher Staatsmann (1815–1898)
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Und dann war plötzlich das Internet da ...
„Ja, und damit die alte Pflicht des öffentlichen Schaulaufens. Neu daran sind das Medium und das Publikum, das nun netzwerkförmig und so schwer überschaubar ist.“

Gut. Wir nutzen Onlinefreundschaften, um unseren Status zu erhalten. Kann das wirklich alles sein?
„Nein. Aber wie Onlinefreunde sonst noch auf uns wirken, hängt stark vom Nutzer ab. Für jemanden, für den soziale Medien massive Statusmedien sind, besteht natürlich die Gefahr, dass für ihn durch die vielen Bilder, mit denen Freunde ihre erfolgreiche Sozialität demonstrieren, der Eindruck entsteht, selber nicht mithalten zu können. So ein verzerrter Vergleichshorizont tut nicht gut. Und sicher ist auch: Für Intensivnutzer, die außerhalb der virtuellen Welt kaum Kontakte pflegen, sind Facebookfreunde ein ganz schlechtes Substitut.“

Aber bieten soziale Medien nicht gerade für Menschen, die im echten Leben kein relevantes soziales Netz haben, eine große Chance?„Facebook und Co sind keine Primärmedien, um soziale Beziehungen zu pflegen, sie ergänzen das Freundschaftsrepertoire nur. Es wird nichts Neues angebahnt, sondern Bestehendes digital ausgebreitet. Wo aber auf jeden Fall Freundschaften entstehen: bei Onlinespielen und auf Matchingplattformen. Das ist quasi wie Tinder, nur ohne Sex.“

Sind virtuelle Freunde demnach echte Freunde?
„Natürlich können sie das sein. Wenn sich zwei über ein Onlinecomputerspiel kennenlernen, gemeinsam Abenteuer erleben und sich aufeinander verlassen müssen, dann ist das eine ebenso echte Freundschaft wie die zwischen zwei Gelehrten früher. Die haben intensiv miteinander an einem Thema gearbeitet, sich ein Leben lang Briefe geschrieben, große Stücke aufeinander gehalten – und sich vielleicht trotzdem nie gesehen. In der Geschichte der Menschheit wird es immer wieder neue Medien geben. Sie werden immer wieder eine Relevanz für soziale Beziehungen haben und, vor allem: Sie werden immer wieder neue Varianten davon generieren.“