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Jokia sieht mich nicht kommen. Sie sieht niemanden kommen. Die alte thailändische Elefantendame ist blind. Dort, wo ihre Augen sitzen sollten, finden sich zwei dunkle Löcher, umrandet von grauer, runzliger Haut. „Es war eine Steinschleuder“, sagt Lek Chailert und tätschelt Jokias nach Futter suchenden Rüssel. „Ihre damaligen Besitzer haben ihr damit die Augen ausgeschossen, als sie sich weigerte, weiter Baumstämme zu schleppen.“

Kurze Pause. Nachsatz: „Sie hatte während der Arbeit im Wald eine Fehlgeburt erlitten, und man ließ sie ihr Baby nicht sehen. Sie durfte nicht trauern. Also blieb sie stehen.“ Ich weiß nicht, wovon mir gerade mehr schlecht ist. Von der kurvenreichen Autofahrt hierher in den Dschungel oder von Jokias Geschichte, dem blinden Elefanten aus Thailand.

Waltraud Hable zwischen zwei Elefanten

Zwischen tonnenweise freundlicher Neugierde. Beide Elefanten haben mehr Gewalt erlebt, als ich mir vorstellen will. Sie haben offenbar verziehen, aber sicher nicht vergessen. Da fühlt man sich ganz schnell klein und demütig. Bild: Luke Duggleby

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85 graue Riesen leben im Elephant Nature Park, einem 1,8 Quadratkilometer großen Areal eine Stunde nördlich von Chiang Mai. Die älteste Elefantenkuh ist hundert Jahre alt, der jüngste Bulle drei. Die meisten der Dickhäuter hier sind ehemalige Arbeitstiere aus der Holz-, Tourismus- und Unterhaltungsindustrie – und alle ein bisschen durch den Wind.

Sie wurden misshandelt, verletzt, sind krank, unterernährt oder psychisch angeknackst. Lek Chailert kennt jedes einzelne Schicksal ihrer Elefanten aus Thailand. Für sie ist der Elephant Nature Park, wo Besucher und freiwillige Helfer den richtigen Umgang mit Elefanten lernen können, die Erfüllung eines Lebenstraums. Seit fast 25 Jahren rettet die Thai-Frau Dickhäuter in Not. Oft hockt sie tagelang mit ihnen im Lastwagen, um sie während ihrer Anreise aus ganz Thailand zu beruhigen.

Bild: Luke Duggleby

Mit ihrem brustlang geflochtenen Zopf und dem bestickten Folkloreoberteil erinnert die 58-Jährige, die mit Vo namen eigentlich Saengduean heißt, aber aufgrund ihrer 1,50 Meter Körpergröße von allen nur „Lek“ (thailändisch für „Kleine“) gerufen wird, an Pocahontas. Eine Pocahontas mit rauem Lachen und viel Humor.

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Sie sagt Dinge wie: „Ich habe keine Kinder. Das Tiereretten könnte mir also definitiv als Ersatzhandlung ausgelegt werden.“ Die 49 Straßenhunde, die sie und ihr Ehemann Derek, ein Kanadier, in ihrem Haus aufgenommen haben, passen da exakt ins Bild. „49? Ist das nicht ein bisschen ... ähm ... viel?“, frage ich und verkneife mir die Bezeichnung „crazy old dog lady“. „Ich schätze, mein Problem ist, dass ich nicht nein sagen kann“, lacht Lek.

Sie hatte während der Arbeit im Wald eine Fehlgeburt erlitten, und man ließ sie ihr Baby nicht sehen. Sie durfte nicht trauern.

Lek Chailert, Elefantenflüsterin

Dann zeigt sie auf eine Elefantenkuh, die merkwürdig schief an einem Wasserloch steht. „Siehst du dieses Mädchen? Ihr wurde bei der Zwangsbefruchtung von einem aggressiven Bullen das Rückgrat gebrochen. Selfies mit Elefantenbabys ziehen Besucher an, aber kaum einer fragt, wo die Mütter der Kälber sind.“

Kranker Elefant

Links: Medo, 39, hat ein gebrochenes Rückgrat. Für ihre Züchter wertlos, wurde die Elefantendame fünfzehn Jahre im Wald versteckt, ohne dass ihre Schmerzen behandelt wurden. Seit 2006 lebt Medo im Park. Unten: Lek und ich im Gespräch. Hinter uns ganz viele Geschichten, die erzählt werden wollen. „Wer informiert ist, handelt umsichtiger“, sagt Lek. Bild: Luke Duggleby

Respekt vor dem Leben

Ich bin nicht zufällig hier gelandet. Seit ich vor drei Jahren auf einer Thailandreise ein Video gezeigt bekam, das mir die rosarote Touristenbrille abnahm, wollte ich Lek persönlich treffen. In dem Film damals erklärte sie Phajaan, eine brutale Praktik zur „Zähmung“ von Elefanten. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich als himmelschreiend naiv und ignorant oute: Zirkusse fand ich böse, ja. Dass ein Elefant nicht freiwillig Pirouetten dreht oder wie Picasso malt, das war mir klar. Aber Elefantenreiten? Das erschien mir nicht sonderlich verwerflich.

Kein Elefant der Welt trägt von sich aus Baumstämme oder Touristen durch die Gegend. Er erduldet das Prozedere nur, sofern sein Wille vorher gebrochen wurde.

„Die sind halt zahm, weil sie unter Menschen aufgewachsen sind“, tat ich die Sache ab. Um zu lernen: Kein Elefant der Welt trägt von sich aus Baumstämme oder Touristen durch die Gegend. Er erduldet das Prozedere nur, sofern sein Wille vorher gebrochen wurde. Rund achtzig Prozent der Elefanten in Leks Park zeigen psychische Auffälligkeiten. Manche der Dickhäuter sind so dünnhäutig, dass sie beim leisesten Geräusch unkontrolliert zu zittern beginnen. Andere trampeln kampfbereit jeden nieder. Lek begegnet ihnen allen gleich: mit tonnenweise Bananen. Und mit noch mehr Liebe. „Du kannst einen Elefanten mit Liebe heilen – und ihn auch mit Liebe zähmen“, sagt sie. Das klingt beinahe zu einfach, um wahr zu sein. Doch Lek lebt vor, dass es funktionieren kann. Ihr Großvater, ein Schamane und Medizinmann, sensibilisierte sie für einen respektvollen Umgang mit der Natur.

Du kannst einen Elefanten mit Liebe heilen – und ihn auch mit Liebe zähmen.

Lek Chailert, Elefantenflüsterin

„Fand er im Dschungel einen verletzten Affen, der in eine Falle getappt war, dann versorgte er dessen Wunden und wilderte ihn später wieder aus – auch wenn ich ihn als Kind anbettelte, mir das Äffchen als Haustier zu überlassen.“ Von ihm bekam Lek eingebläut: Tiere sind nicht dazu geboren, uns zu unterhalten oder auf ihrem Rücken zu tragen. „Der Mensch hat zwei Beine, zwei Arme und genug Grips mitbekommen, um sich alles zu bauen, was er zur Fortbewegung braucht“, sagt Lek. „Man muss sich kein Lebewesen unterwerfen. Tiere haben genauso wie wir eine Familie, die sie vermisst, und einen Auftrag auf dieser Welt.“

Bananen für die Elefanten

Hunderte Kilo Bananen werden täglich im Park ver- füttert, obwohl ein Elefant zum Überleben nur Bambus, Gräser und Äste braucht. Für Lek steht die gelbe Frucht für „Liebe“, die Leckerlis helfen beim Erstkontakt und dienen als sozialer Kitt. Kommt ein Elefant neu an, hängt sie überall Bananen auf, damit das Tier auch nachts naschen kann. Bild: Luke Duggleby

Als wir durch den Park spazieren und uns mit im Bananenblatt gekochtem Kokosklebreis bei den Tieren sehr beliebt machen, sagt Lek: „Die körperlichen Wunden heilen irgendwann. Aber ihren Lebenswillen bekommen die Elefanten nur zurück, wenn du jeden Tag aufs Neue zeigst, dass du sie als ebenbürtige, wertvolle Wesen akzeptierst. Das heilt auch die Narben, die man nicht auf den ersten Blick sehen kann.“

Dann macht sie mich auf die älteste Bewohnerin im Park aufmerksam. Yai Bua, eine hundert Jahre alte Elefantendame, auf deren linkem Vorderbein ein fußballgroßer Tumor wächst. Eine prinzipiell operable Geschwulst, wäre eine Narkose in ihrem Alter nicht zu riskant. „Viele sagen: Lek, rette lieber junge Elefanten. Die Alten sterben zu schnell, das ist schlecht für den Ruf des Parks.“ Sie tätschelt Yai Bua, lehnt sich sanft gegen ihren Kopf. „Ich entgegne dann immer: Ich pfeif auf meinen Ruf. Ich rette auch die alten Elefanten, weil jedes Lebewesen ein Anrecht darauf hat, zumindest einmal im Leben Mitgefühl zu erfahren – und dann hoffentlich im Guten aus dieser Welt scheiden kann.“

Ich rette auch die alten Elefanten, weil jedes Lebewesen ein Anrecht darauf hat, zumindest einmal im Leben Mitgefühl zu erfahren – und dann hoffentlich im Guten aus dieser Welt scheiden kann.

Lek Chailert, Elefantenflüsterin

Ein (Augen)blick für die Ewigkeit

Elefant nimmt ein Schlammbad

Hoch den Rüssel! Der Schlamm bewahrt die Haut vor dem Austrocknen und dient als Sonnen- schutz. Weil Elefanten soziale Wesen sind, bekom- men meist auch Umstehende ein paar Spritzer ab. ;-) Bild: Luke Duggleby

Dass Lek, die gelernte Bibliothekarin, einmal in ganz Asien als „Elefantenflüsterin“ bekannt sein würde, eine Frau, die man zum UN-Umweltgipfel einlädt und die von Hillary Clinton für ihr Engagement auszeichnet wird, darauf hätte keiner gewettet. Nicht einmal sie selbst. Als Kind waren Elefanten für sie Arbeitstiere, zu denen sie keinen rechten Bezug hatte. Sie bekam sie nur zu Gesicht, wenn Holzfäller die Riesen mit laut scheppernden Fußketten durchs Dorf trieben.

Bis sie mit sechzehn einem Bullen direkt in die Augen sah, der zu erschöpft war, um einen weiteren Baumstamm hochzuhieven. „Seinen Blick werde ich nie vergessen, darin lag alles: Schmerz, Angst, Hoffnungslosigkeit, die Frage nach dem Warum. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Ich musste etwas tun.“ Lek organisierte Heilsalben und Tinkturen für Wunden. „Alles ziemlich hausbacken, ich bin ja keine Ärztin. Aber es war besser als nichts.“ Sie zog in die Stadt. Studierte. Ließ das mit der Bibliothekarin sein, gründete ein Reisebüro und sparte darauf, irgendwann zumindest ein Tier freikaufen zu können. Ein Geschäftspartner, der einen Naturpark plante, holte sie als Beraterin. „Ich konnte ihn überzeugen, statt Elefantenreiten nur das Flussbaden ins Programm zu nehmen, das erschien mir als das geringste Übel. Dabei mussten die Tiere nicht leiden.“ Sanfter Tourismus bekam Aufwind und damit auch Leks Idee, auf Wissensvermittlung statt Spaßsafaris zu setzen.

Elefanten im Nationalpark in Thailand

Besucher können im Park auch übernachten, und frei- willige Helfer bleiben gern länger. Die Elefanten dürfen sich frei bewegen. Zu wem und wohin sie gehen, entscheiden allein sie. Bild: Luke Duggleby

Gut zwanzig Anbieter werken heute in Nordthailand nach Leks Grundsätzen. Doch von vielen Elefantenbetrieben der alten Schule und der Holzindustrie erhält sie Todesdrohungen, ihre Aufklärungskampagnen sind Gift fürs Geschäft. In Sri Lanka darf Lek sich zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr blicken lassen.

Doch von vielen Elefantenbetrieben der alten Schule und der Holzindustrie erhält sie Todesdrohungen, ihre Aufklärungskampagnen sind Gift fürs Geschäft.

Lek Chailert, Elefantenflüsterin

„Hast du niemals Angst?“, frage ich. „Doch“, gibt sie zu. „Aber wenn ich einem Elefanten in die Augen schaue, dann weiß ich: Der hat mehr Angst als ich. Elefanten können nicht sprechen. Ich hingegen habe eine Stimme bekommen. Und es ist meine Pflicht, sie zu benutzen.“ Dann ruft sie eine Herde zu sich, die etwas abseits steht. Fünf Kolosse, rund zwanzig Tonnen Lebendgewicht, donnern auf uns zu. Binnen Sekunden ist Lek liebevoll von schlammigen Rüsseln umschlungen, das Buhlen um die Aufmerksamkeit der kleinen großen Frau beginnt.

Waltraud mit Lek Chailert sitzend bei den Elefanten

Lek Chailert spricht nicht viel, wenn sie sich Elefanten nähert. Ihr Blick sagt genug, er vermittelt: Ich sehe dich. „In den Augen eines Ele- fanten kannst du alles erkennen: seine Ängste, seine Fragen, seine Hoffnungen, seine Liebe.“ Bild: Luke Duggleby

Dann schiebt Lek mich in Richtung eines mächtigen Bullen. Sein fast quadratischer Schädel erinnert an das Mammut aus dem Film „Ice Age“. Blau-silbergraue Lichtreflexe flackern in seinen Pupillen, ich habe noch nie solche Elefantenaugen gesehen. „Sawaadikha“, sage ich zögerlich. Nach allem, was mir Lek eingetrichtert hat – „Fasse nie einen Elefanten ohne dessen Einwilligung an!“ –, scheint mir ein formelles „Hallo“ auf Thailändisch als Begrüßung angebracht. Der Elefant fixiert mich argwöhnisch und schnaubt. Ich versuche die Vorstellung, gleich niedergetrampelt zu werden, von mir wegzuschieben und schenke ihm stattdessen meinen freundlichsten Blick.

Ich stehe ein wenig verloren daneben. „Du musst die Trennwand in deinem Kopf auflösen“, ruft Lek mir zu. Ich verstehe nicht. Welche Trennwand, bitte schön? „Mensch. Tier. So teilen wir die Welt ein“, höre ich sie sagen. „Tiere sind für uns fremde Wesen, weil sie nicht unsere Sprache sprechen. Aber ein Elefant will im Prinzip dasselbe wie du: ein friedliches Umfeld, keinen Hunger leiden, Respekt, Liebe. Wenn du das erkennst, kannst du mit jedem Lebewesen kommunizieren. Du musst nur deine Aufmerksamkeit schärfen.“

Zum Nachdenken: Leks goldene Regeln ihre Elefanten aus Thailand

Lek Chailert streichelt einen Elefanten

Bild: Luke Duggleby

  1. Ich handle nach dem Grundsatz: Würde ich das für mich wollen? Tiere mögen vielleicht anders kommunizieren, aber sie streben nach demselben wie du und ich: Sicherheit, Nahrung, Liebe, Respekt. Das dürfen wir nie vergessen.
  2. Mein Großvater, ein Schamane, sagte immer: Jedes Lebewesen hat eine Mutter, einen Vater und eine Gemeinschaft, in der es eine spezielle Rolle erfüllt. Hält man sich ein Wildtier als Haustier – etwa weil man es nach einer Verletzung behandelt und eine Bindung aufgebaut hat –, agiert man selbstsüchtig. Die Tiere müssen die Chance bekommen, in ihr natürliches Umfeld zurückzukehren, nur das bewahrt das ökologische Gleichgewicht.
  3. Mit Tieren zu kommunizieren ist einfach. Der Schlüssel liegt darin, zu warten, bis einem die Erlaubnis erteilt wird, sich zu nähern. Vielleicht dauert es Stunden oder gar Tage, bis das Tier durch Stillstehen oder eine neugierige Kopfbewegung signalisiert: „Es ist okay.“ Aber das Warten zeigt: Ich zolle dir Respekt. Und das wiederum öffnet auf beiden Seiten die Herzen.
  4. In den Augen der Tiere kannst du alles sehen.
  5. Tu alles, was du tust, aus Liebe – und mit Liebe. Nur so kannst du etwas zum Positiven verändern.