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Atmung ist präzise messbar: Wir prüfen unser Lungenvolumen, beobachten die Bewegung des Zwerchfells, erkennen am Röntgen jede noch so kleine Veränderung der Bronchien. Mit dem Stethoskop klopfen wir den Atem auf all seine Geheimnisse ab und doch bleibt er stets ein Stück geheimnisvoll. Quer durch die Kulturen und Zeitalter haben Menschen versucht, dieses Geheimnis in Worte zu fassen: In China steht “chi” gleichzeitig für Lebenskraft und Atem, das lateinische “spirare” bringt “atmen” mit dem heiligen Geist in Verbindung und das mittelhochdeutsche “Odem” bedeutet Seele sowie Geist Gottes.

Beim Atmen geht es um mehr als um Atmung

Kurz: Beim Atmen geht es um mehr als um Atmung. Davon ist der Atempädagoge und Therapeut Norbert Faller felsenfest überzeugt. carpe diem hat mit ihm darüber gesprochen.

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carpe diem: Herr Faller, Sie sind Atempädagoge. Da liegt natürlich die Frage nahe: Warum sollte ich atmen lernen? Kann ich das nicht?

Norbert Faller: Wir würden nicht leben – keiner von uns – wenn wir’s nicht könnten. Die meisten, die gesund auf die Welt kommen, machen das auch prima. Aber es gibt Bedingungen im Leben, die dazu führen können, dass etwas eigentlich ganz Intuitives, das vom Körper selbstständig gesteuert wird, verloren geht. Das kann viele Ursachen haben: Einseitige oder mangelnde Bewegung, schlechte Haltung, Verspannungen, Stress, seelische Probleme, manchmal liegt es auch an bestimmten Gedanken, die uns “den Atem nehmen”. Dazu kommen Umwelteinflüsse (Allergien) oder Rauchen.

Es gibt heute wirklich viele Lebensgewohnheiten, die dazu führen, dass die Atmung sich verändert, dass es zu fixierten, starren Mustern kommt, die den Atem einschränken. So geht etwas natürliches, das von alleine fließen könnte, verloren. Es geht beim Atmen nicht darum, etwas zu tun, sondern es zu erlauben.

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Wie atmet man richtig?

Es gibt kein allgemein gültiges ‚richtiges Atmen‘.

Es gibt kein allgemein gültiges “richtiges Atmen”. Es gibt nur ein richtiges Atmen, das dem jeweiligen Menschen und der jeweiligen Situation entspricht. Das heißt: Der Atem sollte möglichst flexibel sein und sich den Herausforderungen und Belastungen, die ein Mensch hat, aber auch den Ruhephasen anpassen. Das wichtigste ist diese Flexibilität.

Der Atem begleitet uns – einmal hüpfend, freudig, einmal ruhig. “Richtig” ist der Atem dann, wenn der Atemrhythmus passt – also wenn er kongruent ist, mit dem, was passiert. Nur wenn er gar nicht mehr zur Ruhe kommen kann (wie bei Angst oder Stress) oder nie lebendig wird (wie bei Depression), dann hat man ein Problem.

Wie kommt der Atem zur Ruhe?

Wenn wir uns entspannen, Musik hören, am Sofa sitzen, lesen, sollte nach dem Ausatmen auch eine Atemruhe eintreten: Wir sprechen von einem dreiphasigen Atem. Wenn wir schneller unterwegs sind, dann geht oft die Pause verloren, das ist ganz natürlich: Denn wer schneller unterwegs ist, braucht mehr Sauerstoff. Am Sofa brauchen wir weniger, da sollte nach dem Ausatmen eine Pause vor dem jeweils nächsten Einatmer folgen. Fehlt die Pause, beruhigt sich der Organismus nicht. Diese Menschen kommen dann auch ganzheitlich meistens nicht zur Ruhe.

Stichwort “ganzheitlich”... Wie hängt denn der Atem mit meinem Befinden zusammen?

Wie Menschen leben, beeinflusst wie sie atmen. Umgekehrt kann ich auch über den Atem sehr effektiv mein Befinden verbessern: die körperliche Befindlichkeit, Verspannungen, meinen Schlaf, manche Schmerzen, aber auch Stimmungen, Gefühle, Gedanken, Selbstvertrauen...

Das ist einer der Gründe, warum es so interessant und auf effektiv ist, sich mit dem Atem zu beschäftigen.

Und die anderen Gründe?

Viele. Es gibt zum Beispiel noch eine weitere Wechselwirkung: Um Atem wahrzunehmen, braucht es Bewusstheit. Denn wenn wir auf etwas anderes fokussiert sind, kümmern wir uns nicht ums Atmen. Gleichzeitig fördert die Beschäftigung mit dem Atem das Bewusst werden. Wir werden uns unserer Gewohnheiten bewusster und realisieren: “Ok, immer wenn ich die Dinge so angehe, halte ich den Atem an, weil ich es mit zu viel Anstrengung und Spannung tue. Das wäre vielleicht auch mit weniger möglich.” Oder ich merke: “Na gut, war jetzt leider nicht möglich, mit weniger Spannung zu reagieren” – aber dann kenne ich zumindest Übungen, die mir helfen, wieder in einen Spannungsausgleich zu kommen.

Foto: Max van den Oetelaar

Wirken Einatmung und Ausatmung unterschiedlich auf diesen Spannungsausgleich?

Beim Einatmen wird das vegetative Nervensystem stimuliert, der Sympathikus. Das bringt mir Energie, stimuliert mich, macht mich wach, weckt meinen Tatendrang und fördert die Konzentration. Alle Bewegungen, die schwungvoll sind, regen das Einatmen an. Wenn ich also Energie brauche, bewege ich mich so, dass sich der Atem beschleunigt. Oder ich nutze Dehnungen. Dehnungen schaffen Raum; Raum bedeutet Weite – und einatmen heißt ja weit werden: Beim Einatmen wird der Brustkorb geweitet, es entsteht Unterdruck, dadurch kommt mehr Luft herein. Alle Bewegungen, die Raum schaffen und Einatmung fördern, bringen mehr Energie.

Wenn ich hingegen Übungen mache, bei denen ich die Aufmerksamkeit auf das Ausatmen lenke, das Ausatmen verlängere, verlangsame, so stimuliert das den Parasympathikus, also jenen Zweig des Nervensystems, der für Erholung und Beruhigung zuständig ist.

Viele Atemübungen beinhalten beides, denn da geht es um ein Gleichgewicht. Aber man kann das natürlich auch sehr effektiv, gezielt einsetzen.

Wie finde ich meinen individuellen Atemrhythmus?

Das was einfach sein sollte, ist eigentlich das schwierigste: Auf den Atem zu achten, ohne ihn zu beeinflussen. Das ist eine Kunst. Warum das so schwer ist, kann verschiedene Gründe haben. Wenn wir auf den Atem achten, dann fällt uns ein, wie Atem sein sollte, wir denken “so oder so wär’s richtig”...  immer diese Frage nach dem Richtigen!
Wir haben wenig gelernt, etwas zu beachten und es gleichzeitig so zu lassen, wie es ist.

Aber ist nicht bereits das Beobachten des Atems eine Art Beeinflussung?

Natürlich. Ein unbewusster Atem fließt anders als ein bewusst wahrgenommener Atem – und noch mal anders als ein geführter Atem. Viele Techniken arbeiten mit dem geführten Atem (z.B. Yoga). Da wird der Atem genutzt, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Bei der Arbeit mit dem zugelassenen Atem geht es um den individuellen Atem jedes Menschen: d. h der Atem wird nicht willentlich beeinflusst, sondern es wird einfach nur wahrgenommen, wie er von selbst und individuell auf verschiedene Interventionen reagiert. Das ist nachhaltiger als alle Versuche, ihn zu lenken. So komplex wie das Atmen ist und das anatomische Versorgungssystem – das können wir willentlich gar nicht alles berücksichtigen! Für mich bedeutet Atmen: zulassen, loslassen. Wenn das möglich ist und der Atem so fließen kann, wie’s eigentlich gemeint ist, führt er uns zu dem, wer wir sind.

Danke für das Gespräch!

Zur Person

Norbert Faller ist akademischer Atempädagoge, HAKOMI-Therapeut, Somatic-Experiencing Practitioner und Atempsychotherapeut mit eigener Praxis in Wien. Seine Schwerpunkte sind die Atemlehre Ganzheitliches Atemerleben auf Grundlage der Middendorf-Methode, sowie Trauma- und Körperpsychotherapie. Er ist Leiter des Lehrganges für Atempädagogik. Website: www.norbert-faller.com

Buchtipp

Norbert Faller: Atem und Bewegung. Theorie und 111 Übungen. 3. aktualisierte Auflage 2019. Springer Verlag.