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Der Nachtfrost zwickte ihn in die Wangen, zwickte und ließ ihn den Kragen seines Mantels hochschlagen. Nieselregen legte sich als kalter Film über sein Gesicht. Wie ein Seemann, nur ohne Hafen, lächelte er grimmig in sich hinein. Wenigstens spürte er das Leben in sich. Und wo Leben war, musste doch auch Ruhe sein?

In der Ferne wurde ein Fenster geschlossen, ein Licht gelöscht. Die Wohnblöcke schienen ihm wie Augen, die ihre Lider längst gesenkt hatten. Einem Pilger gleich war er jeden Abend diese Runde gegangen, wollte er mit seinen Schritten die Last auflösen, den Schmerz brechen. Wieder und wieder hatte er Hoffnung daran geknüpft, wieder und wieder war sie enttäuscht worden.

Gehen, um nicht schlafen zu müssen. Wach zu bleiben und doch zu wissen, dass der Traum kommen würde.

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Setz dich zu mir, Peter. Wir sollten reden, endlich

Als er vor seiner Tür stand, saugte er die Luft ein. Er ahnte die Wiederholung, als er den Schlüssel im Schloss drehte und dieser ein knarzendes Geräusch von sich gab. Doch diesmal war es nicht das vertraute Dunkel, das ihn drinnen umfing. Sein Schritt schien auf der Schwelle zu gefrieren: Jemand hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht, mitten in seinem Wohnzimmer, das jetzt von gleißendem Licht durchflutet war.

Er wollte schreien, doch der Anblick raubte ihm den Atem: Der Körper des ungebetenen Gastes schien zu changieren, jede Kontur jederzeit zu verlieren und doch zu halten. Knallige Farben wechselten mit lieblichen Gesichtern, ein kindliches Lachen mit erstickten Schreien, unendliche Blumenwiesen mit feuerspeienden Vulkanen. Wilde Pferde jagten über weite Steppen, Drachen mit goldenen Schuppen schickten Feuerstöße über das Firmament, und Wolkenkratzer schwammen wie Enten über einen üppig mit Seerosen besetzten Teich. Welches Wesen konnte so viele Bilder halten, so grenzenlos sein?

„Setz dich zu mir, Peter. Wir sollten reden, endlich“, hörte er eine Stimme, die so viele Nuancen hatte, die eine Stimme für so vieles, eine Stimme von so vielen war. Engelsgleiches Flüstern hatte in ihr zu selben Zeit Raum wie ohrenbetäubendes Brüllen.

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„Wer, wer bist?“, stammelte Peter. „Das weißt du doch, ich bin deine Träume.“ „Ich wusste nicht, dass du lebendig bist.“ „Ja, du wolltest mich nur loshaben. Dabei gibst du mir jede Nacht Leben. Ich bin seit jeher ein Teil von dir, ich bin für dich da.“

„Dann bist du es auch, die mir die Albträume schickt? Bist du mein Albtraum?“

„Was du Albträume nennst, das sind die großen Träume. Wenn du mir nicht zuhörst und ich keinen Weg zu dir finde, dann schreie ich. Kann schon sein, dass ich es manchmal übertreibe.“

Die weiße Wand seines Wohnzimmers wurde zur Leinwand, und dort flimmerte die Szene, die ihm seit Jahren den Schlaf verdarb, ihn fast in den Wahnsinn trieb. Er sah die Häscher, die drei Männer, die ihn jagten und greifen wollten, und den Abgrund, der näher kam. Erst im allerletzten Moment, in der größten Verzweiflung, breitete er die Arme aus, und die Luft trug ihn plötzlich.

Ist dir überhaupt bewusst, dass du fliegen kannst?

Er war gerettet – aber nur bis zur nächsten Nacht. „Ist dir überhaupt bewusst, dass du fliegen kannst?“, unterbrach die Stimme das Schweigen, doch davon wollte Peter jetzt nichts wissen. „Was habe ich den dreien getan? Warum jagen sie mich?“

„Ach, Peter, du begegnest dir doch nur selbst in deinen Träumen. Jede Nacht erlebst du das, was du in deine Tage packst, was du ersehnst, was du liebst und welchen Schmerz du dir zufügst. Ich spreche in Symbolen zu dir, damit du dich verstehen lernst. Aber heute bin ich da, weil du Hilfe brauchst, das Offensichtliche zu sehen. Also: Warum jagst du dich?“

Tränen liefen Peter übers Gesicht. All das Hetzen der Jahre, wenn er sich selbst nicht gut genug war, wenn es immer mehr sein musste, er nicht in seine Zufriedenheit fand. Er war es, der sich selbst verfolgte. Es waren seine Dämonen, die ihn Nacht für Nacht heimgesucht hatten. Doch im selben Moment spürte Peter, dass soeben etwas zu einem Ende gekommen war. Hier und jetzt.

Und schon waren die Männer wieder da, tobten durch das Wohnzimmer. Frontal rannten sie auf Peter zu. Einmal mehr spürte er ihren Atem, ihren Zorn, ihre Grobheit. Kurz durchzuckte es ihn, nachzugeben. Doch diesmal blieb er einfach nur stehen, hielt ihren entschlossenen Blicken stand. Mehr gab es nicht zu tun. Er war ihnen keine Beute mehr, und damit endete auch seine Flucht. Alle vier reichten sich wortlos die Hände. Die Männer drehten sich um, schlenderten davon.

Peter war von dem Erlebten überwältigt. Er bebte am ganzen Körper und musste sich hinlegen. „Sei achtsam mit dir selbst. Sei dankbar für dein Leben, für alles, was dir begegnet. Und sei dir bewusst, dass du gestalten kannst“, flüsterte ihm das Wesen noch ins Ohr.

Wie eine Mutter strich es ihm über das Gesicht.

Seine Augen wurden ihm schwer, sanft glitt er in einen tiefen Schlaf hinüber. Seine Träume waren nun endlich ein Teil von ihm.

Klaus Haselböck, 52, ist Mitbegründer unseres Schwestermagazins „Bergwelten” und heute Teil der Chefredaktion. Seinen Traum von Abenteuern lebt der Journalist und Buchautor auch beruflich aus.

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