In Partnerschaft mit

Es ist Nachmittag, und Rosa verteilt dreißig Knäuel Garn vor sich auf dem Boden. Sie beginnt zu häkeln. Eine große, bunte Decke soll es werden. Als sie fertig ist, hängt sie die Häkeldecke aus dem Fenster. Wie andere Leute Flaggen von Ländern hinaushängen. Sie ist zufrieden, aber dann denkt sie schon an den nächsten Schritt. Das nächste Stück: eine Skulptur aus Holz.

Hier kannst du dir die Geschichte anhören, eingelesen von Wolfgang Wieser:

Akzeptiere bitte die Marketing Cookies, um diesen Inhalt zu sehen.

Cookie Einstellungen
Anzeige
Anzeige

Vor einem Monat gab es noch keine Stücke und Skulpturen, da sah Rosas Welt noch ganz anders aus. Irgendwann war ihr dann die Eintönigkeit aufgefallen. Sie saß auf dem Fensterbrett, blickte hinaus und fragte sich, wann die Farben von der Straße verschwunden waren. Draußen fuhren schwarze Autos vorbei, silberne, weiße. Die Parkplätze waren vollgestellt. Auch dort alle Schattierungen von Grau. Die schlammfarbenen Fahrzeuge hielten als langweilige Farbtupfer her. In ihrer Kindheit hatte Rosa mit ihrer Schwester immer Autos gezählt. Jede von ihnen hatte sich eine Farbe ausgesucht; sie meistens rot, die Schwester blau. Und wer mehr Autos hatte zählen können, war Siegerin gewesen. Was für ein stumpfes Spiel das heute wäre, dachte Rosa am Fensterbrett. Und bemerkte noch gar nicht, dass ihre Wohnung genauso Ton in Ton daherkam: eine graue Couch, ein beiger Teppich, beige Vorhänge, ein heller Holztisch, eine schwarze Fernsehkommode. Ein Meer grüner Pflanzen, immerhin. Aber keine Blüten.

Es ist Wochenende, und Rosa sucht Holzstücke zusammen, holt sich Hammer und Nägel und zimmert eine runde Form und noch eine zweite, verbindet beide, sodass Kopf und Rumpf entstehen. Dann vier Füße, Öhrchen, ein kurzer Rüssel. Sie streicht die Form pink. Als das Holzschwein fertig ist, stellt sie es in den Park vor ihrem Wohnhaus. Sie blickt zur Häkeldecke hoch, die vom Fenstersims baumelt.

Das nächste Stück gehört in Sichtweite des Schweins, beschließt sie. Nachdem sie die Stadt eine Zeit lang im Hinblick auf die fehlenden Farben durchleuchtet hatte, dabei bemerkt hat, dass nicht einmal mehr McDonald’sFilialen wirklich bunt sind und dass alle Markenlogos aus denselben schwarzen oder weißen geraden Buchstaben bestehen – Chanel und Uber und Hilton – und dass alles andere genauso strammsteht, die Straßenlampen gerade Pfeiler mit grellem Spot sind anstatt verschnörkelter Säulen, die ein warmes Laternenlicht in den Nachthimmel halten – da fiel ihr eines Tages beim Nachhausekommen auch auf, wie ihre Wohnung eingerichtet war: Neben den gedämpften Farben sah Rosa die vielen geraden Linien. Den weißen Schrank öffnete sie, indem sie gegen die Türen drückte. Keine Griffe, keine Knöpfe. Im Schrank waren Bettwäsche und Handtücher ordentlich gestapelt. Weiß auf weiß. Nur von ganz hinten lugten die alten Sachen hervor: Badetücher mit Dschungelmustern und die psychedelische Bettwäsche aus ihrer Jugend. Niemals hätte sie diese Sachen herausgeholt, aus Angst, beim – ohnehin seltenen – Besuch als geschmacklos zu gelten.

Anzeige
Anzeige

Noch mehr Gute-Nacht-Geschichten für Erwachsene:

Es ist Mitternacht, und Rosa ist mit einem Kübel Lack unterwegs. Sie trägt ihn am Holzschwein vorbei, gute hundert Schritte weiter, und bleibt vor einer der strammen Straßenlaternen stehen. Ganz unten fängt sie an und pinselt blaue Meereswellen auf das Metall, so weit nach oben, wie ihr Arm reicht. Ein richtiger Hingucker, denkt sie, als sie fertig ist, und macht sich auf den Weg nach Hause.

In das Zuhause, das nun gar nicht mehr zurückhaltend ist. Neben Monstera und Drachenbaum sind Orchideen und Hortensien eingezogen. Tischwäsche für jeden Anlass findet sich in der Küchenkommode. Türen und Türrahmen strahlen in Gelb. An den Wänden hängen Bilder von Künstlern, die sie gerade erst entdeckt hat, neben kleinen Kunstwerken, die sie selbst geschaffen hat.

Und die graue Couch hat Rosa im Internet verkauft, an ihrer Stelle steht jetzt ein grünes Exemplar. Auf einem moosfarbenen Teppich. Es ist vier Uhr früh, und Rosa hat sich mittlerweile daran gewöhnt, mitten in der Nacht durch die Stadt zu streifen. Einmal pro Woche folgt sie ihren Stücken wie Brotkrumen und setzt die Reihe fort: Häkeldecke, Holzschwein, Meereswellenlaterne, Regenbogensteine am Kinderspielplatz, mit glitzernden Stickern beklebter Baustellenzaun, Blumenbeet in der Asphaltlücke.

Heute ist eine Bushaltestelle dran. Rosa hat Girlanden aus Sternen, die in der Dunkelheit leuchten, gebastelt. Jetzt klebt sie sie an den Dachvorsprung des Wartehäuschens. Sie betrachtet ihr Werk. Schön, denkt Rosa, schultert ihren Rucksack und marschiert los. Als sie den Park durchquert und auf ihren Wohnblock zugeht, sieht sie, dass sich während ihres Streifzugs etwas verändert hat. Die Rahmen aller Eingangstüren in ihrer Straße sind mit Federboas behängt. Rosa streicht über die bunten Federn und murmelt: „Endlich!“

Katharina Brunnauer-Lehner ist Chefredakteurin unseres Schwestermagazins „Bergwelten“, wollte als Kind aber immer Innenarchitektin werden.