In Partnerschaft mit

Was haben ein Chorsänger und ein Marathonläufer gemeinsam? Was nach dem Beginn eines sehr schlechten Witzes klingt, führt zu einer einfachen Pointe: Sie sind glücklich. „Wenn Sänger sich richtig wohlfühlen, schütten sie ganz ähnliche körpereigene Opiate aus wie Langstreckenläufer“, sagt Gunter Kreutz, Professor für Systematische Musikwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg in Deutschland.

Das gilt für Chorsänger und – ein bisschen abgeschwächt – natürlich auch für alle, die lieber alleine trällern. Bereits nach 30 Minuten gehen wir über vor Glücksgefühlen – und bauen gleichzeitig Stress ab. Singen ist freilich viel mehr als ein hochwirksamer Stimmungsmacher, es ist auch eine besonders effektive Form der Ganzkörpergymnastik. Wenn wir Töne erzeugen, brauchen wir Lunge, Kehlkopf und Stimmlippen. Jedes Mal, wenn wir beim Atmen möglichst viel Platz in der Lunge schaffen und dabei tief in den Bauch atmen, trainieren wir die Rückenmuskulatur und massieren den Darm. Wir schicken mehr Sauerstoff durch die Blutbahnen, unser Herz schlägt schneller, unser Stoffwechsel kommt in Schwung, und als Resonanzkörper werden wir ganz vom Singen erfüllt.

Swing fürs Gehirn

Das meiste spielt sich beim Singen freilich im Kopf ab. Selbst wenn wir gedankenverloren oder mit Stöpseln im Ohr vor uns hin summen oder unter der Dusche den erstbesten Ohrwurm raushauen, der uns zugeflogen ist: Unser Hirn ist dabei hellwach. „Beim Singen werden wahnsinnig viele Gehirnregionen gleichzeitig aktiviert“, sagt Thomas Stegemann, Professor für Musiktherapie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Der Hirnstamm, das limbische System und die Großhirnrinde geraten in Schwingung, das Sprachzentrum genauso wie jenes für unsere Emotionen. „Die Hirnforschung hat in den vergangenen Jahren sehr gut zeigen können, dass Singen, dass Musik insgesamt entscheidend zur Vernetzung im Gehirn beiträgt“, erklärt Stegemann.

Anzeige
Anzeige

Die Hirnforschung hat in den vergangenen Jahren sehr gut zeigen können, dass Singen, dass Musik insgesamt entscheidend zur Vernetzung im Gehirn beiträgt

Thomas Stegemann, Professor für Musiktherapie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien

Musik ist Gänsehautmoment

Wir alle kennen auch diesen magischen Augenblick, in dem sich aus einem Meer von instrumentalen Klängen plötzlich die menschliche Stimme erhebt – und uns emotional mit Haut und Haar erwischt. Egal ob diese Stimme dem Tenor einer Wagner-Oper oder Billie Eilish gehört. Die Wissenschaft erklärt diesen Gänsehautmoment mit den ersten Eindrücken, die jeder von uns noch als Embryo von der Welt mitbekommt. Lange bevor wir Sprache verstehen, können wir an der Dynamik der Laute, am Hoch und Tief, am Langsam und Schnell, erahnen, was gerade passiert. Es kommt also nicht von ungefähr, dass selbst griesgrämige Erwachsene in einen heiteren Lalelu-Singsang verfallen, sobald sie ein Baby im Arm halten. Sie spüren intuitiv, dass die Kleinen sie so besser verstehen.

Anzeige
Anzeige

Musiktherapie in singenden Krankenhäusern

„Die beruhigende Wirkung, die das Singen hat, ist nachgewiesen“, sagt Musiktherapeut Stegemann. Deshalb kann Musiktherapie auch bedeuten, vor einem Brutkasten zu stehen, für ein frühgeborenes Baby zu singen und die Eltern dazu zu animieren, es ebenfalls zu tun. Und das wirkt: „Viele Frühchen können so eher nach Hause.“ Wie sehr Singen mittlerweile in der klassischen Medizin angekommen ist, zeigen auch die „Singenden Krankenhäuser“, ein Verbund von rund 40 Kliniken in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Dort wird Singen zur Unterstützung des Genesungsprozesses angeboten. Im Klinikum Dortmund hängen zum Beispiel Plakate mit einer augenzwinkernden und zugleich ernsthaften Botschaft: „Warnhinweis: Singen ist ansteckend und gesundheitserregend. Im Klinikum sind regelmäßig Überträger aktiv.“

In den Kliniken singen Patienten, Ärzte und Pflegepersonal gemeinsam. Mit gutem Grund: „Wenn wir in der Gruppe singen, dann wird besonders viel Oxytocin ausgeschüttet, das Bindungshormon, das uns Geborgenheit und Zugehörigkeit gibt“, sagt Musiktherapeut Stegemann. Und wenn wir dann alle miteinander synchron sind, wenn dadurch jeder über sich selbst hinauswächst, sich sogar unser Herzschlag aneinander anpasst, dann ist das ein fantastisches Gefühl.

Das Glück im Chor

Die wohltuende Wirkung des gemeinsamen Singens ist übrigens gänzlich unabhängig von Melodie und Text. „Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht“: Selbst solche und ähnlich freundliche Choräle im Stadion kommen nicht um die positiven Effekte herum. Deshalb grölen Fußballfans so gerne, deshalb ist der schönste Moment eines Konzerts jener, in dem der Popstar das Mikro auf die laut mitsingende Menge hält. Da fließt dann das Endorphin, und wir sind glücklich. Angst prallt an uns ab. Wir sind auf den Moment fokussiert. Wir sind weniger schmerzempfindlich und können viel mehr aushalten. Nicht umsonst wurden jahrhundertelang Arbeits- und Kampflieder gesungen.

All diese Erfahrungen brennen sich in unser Gehirn ein. Menschen, die einen Schlaganfall erlitten und die Fähigkeit zu sprechen verloren haben, können oft noch Melodien summen. Demenzkranke erinnern sich an Strophen eines Liedes aus ihrer Kindheit. Musikalische Erfahrungen sind fester verankert – weil sie mit viel mehr Emotionen und Sinneseindrücken verknüpft sind. Wenn wir 30 Jahre später immer noch sämtliche Strophen der Songs unserer Jugend auswendig können, heißt das also leider nicht, dass wir deshalb hochbegabt sind. Wir sind eher normal. Was wiederum beruhigend ist, wenn man sich zwischendurch darüber wundert, dass man auch die Texte der allerschlechtesten Lieder der allerschlechtesten Partys der Welt abrufbereit hat.