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4:30 Uhr morgens. Kanchanaburi, sechs Busstunden westlich von Bangkok. Ein Vipassana-Meditationszentrum im thailändischen Dschungel, wo die Zikaden pünktlich mit der aufgehenden Sonne ohrenbetäubend laut zu zirpen beginnen. Wobei: Die Zikaden sind harmlos gegen Sataya Narayan Goenka – den Inder mit dem runden, freundlichen Gesicht und den schelmisch zu Schlitzen verkniffenen Augen. Er ist der wahre Lärmterrorist hier. Kaum, dass die Zikaden loslegen, singt auch er. Lautsprecher in den Bäumen beschallen das ganze Areal mit seinem Chanting. Das Problem dabei: Goenka kann nicht wirklich singen. Er klingt wie ein wehmütiger Seemann, der ein Schnapsfass ausgetrunken hat. Goenka lässt Töne ausgurgeln. Und immer, wenn man denkt, das war’s endlich, stimmt er eine weitere Strophe in Pali an, der altindischen Sprache, in der Buddha gelehrt hat.

Vipassana per Video

Am ersten Morgen will ich ihn eigenhändig abmurksen. Wobei, das wäre nicht nur vom Moralischen her sinnlos, wie ich lerne. Goenka ist schon tot, 2013 ging er 89-jährig ins Nirwana über. Und weil er ein hochrespektierter Lehrer der Vipassana-Methode war, wurde kein Nachfolger gesucht. In seinen über hundert Meditationszentren weltweit unterrichtet er nun weiter per Video- und Audioaufzeichnungen. Den Startknopf am Computer drücken zwei weißgewandete Assistenz-Lehrer, ein Mann, eine Frau. Sie erinnern mich an Playmobilfiguren. Freundlich, aber stoisch.

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Die Regeln sind für alle 75 Teilnehmer – ein bunter Haufen aus Backpackern, Finanzmanagern, Hausfrauen, sogar eine thailändische Oma um die 80 Jahre ist dabei – gleich: Handy weg. Laptop weg. Zehn Tage kein Wort untereinander. Absolutes Schweigen mit gesenkten Blick, man solle so agieren, als wären die anderen nicht vorhanden und sich ganz auf sich konzentrieren.

Schaut euch diese Meditationsmethode zehn Tage an. Verdammen könnt ihr sie dann immer noch.

Dazu: Elf Stunden Meditation pro Tag. Von 4:30 Uhr bis 21 Uhr, mit kleinen Pausen dazwischen. Frühstück gibt es um 6:30 Uhr, Mittagessen um 11 Uhr. Danach keine Nahrung mehr, so wie im Alltag von Mönchen auch. Und wo wir schon dabei sind: Du sollst nicht töten. Nicht stehlen. Nicht lügen. Dich weder an Alkohol, Drogen oder sexuellen Handlungen erfreuen. Es herrscht strikte Mann-Frau-Trennung.

Zugeben, das Ganze klingt nach sektenartiger Gehirnwäsche – und mit dem Schweigen wird praktischerweise auch Kritik eingedämmt.

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Aber wie Goenka uns einbläut: Warum tue ich mir das an?

Ich verdamme sie bereits in der ersten Stunde. Warum bitteschön tue ich mir dieses Gefängnis an? Die Antwort ist leider wenig spirituell oder hochgeistig: Ich habe mal ein dreitägiges Meditationsseminar besucht. Ich mochte es, meine Gedanken zu bündeln. Also dachte ich: Jetzt, wo ich Zeit habe, wären zehn Tage fein. Und nein, ich hatte das Kleingedruckte nicht gelesen, ich hatte keine Ahnung, was Vipassana ist.

Heute weiß ich: Vipassana heißt, das Ego beim Check-in abzugeben. Und die rosarote Brille gleich dazu. Es geht nicht darum, Gedanken in positive Bahnen zu lenken. Es geht tiefer. Du sollst lernen, mithilfe deines Atems winzige Regungen und kleinste Vibrationen in deinem Körper wahrzunehmen. Weil jedem Gefühlsausbruch eine körperliche Reaktion vorausgeht. Und nur wer diese Körperimpulse erkennt und kontrolliert, kann mit Wut, Begierde, Ablehnung umgehen und wieder ausgeglichen schwingen.

Start again

Die erste Zeit schwingt bei mir gar nichts, außer Groll. Ich kann Goenkas „Start again“ nicht mehr hören. Start again. Start again. Start again. Immer nur auf den Atem konzentrieren. Sonst nichts. Ich habe das Gefühl, er will meinen Willen und meinen Rücken brechen. Am Ende von Tag 2 bin ich wild entschlossen, abzuhauen. Ich suche eine der Helferinnen auf, mit denen darf man sprechen. Ergebnis: Ich bekomme einen Sessel bewilligt, so einen, wie ihn die thailändische Oma auch hat. Bye, bye Lotussitz.

An Tag 3 verschwindet ein männlicher Teilnehmer, an Tag 4 eine weibliche Mitgefangene. Ihre Plätze bleiben leer, ihr Geschirr im Essbereich wird ohne Erklärung weggeräumt. Ich beneide sie. Fantasiere über meine Flucht zurück nach Bangkok.

Licht am Ende des Tunnels

An Tag 5 kommt schließlich langsam die Wende. Nachdem ich den Großteil der morgendlichen Meditationszeit über die wichtigen Dinge des Lebens nachgedacht habe – etwa wie Prince Harry wohl als Vater ist oder mit welchem Lack ich meine Zehennägel nach Vipassana aufhübschen werde –  und mich wieder auf Goenkas Anleitungen konzentriere, spüre ich, wie mir Energie die Wirbelsäule entlang schießt. Es ist ein Kribbeln, vom Kopf bis in den kleinen Zeh. Und mit den Regungen, die ich spüre, kommen auch Bilder. Ich merke etwa, dass mein Stresszentrum im Unterleib sitzt. Dass ich dort verkrampfe, sobald mich etwas emotional schmerzt oder unter Druck setzt. Plötzlich ist eine Stunde im Nu vorbei. Bald auch eine zweite.

Ab Tag 6 sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Ich muss weinen. An Tag 7 vermisse ich mein Handy und die Möglichkeit, mich mitzuteilen. Ich wollte einer speziellen Person, einem Mann, der in meinem Herzen ist, etwas sehr Spezielles schreiben. An Tag 8 realisiere ich, dass das nichts bringt. An Tag 9 bin ich traurig. Euphorisch. Beides zugleich. An Tag 10 bin ich frei. Von Goenka. Und von sonst so Einigem.

An Tag 11 – frisch nach der Entlassung – setze ich mich freiwillig im Lotussitz hin. Und höre in meinem Kopf: Start again. Start again. Start again. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich lächle.
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