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Jeder hatte mich vor Vietnam gewarnt. Einschließlich der Vietnamesen. Meine beängstigend kluge Schwester – eine weltoffene, tolerante Frau – raunte: „Das sind halt irgendwie Gauner“, und erzählte dann von stümperhaft agierenden Taschendieben und falsch herausgegebenem Wechselgeld. Eine Amerikanerin meinte: „Die hauen dich alle übers Ohr – oder versuchen es zumindest.“ Und Anh, geboren und aufgewachsen in Saigon, trichterte mir ein: „Schau nie auf offener Straße aufs Handy, Motorradfahrer reißen es dir aus der Hand, das geht blitzschnell.“ – „Aber ich muss unterwegs ständig aufs Handy schauen, Anh, ohne Navi-App bin ich quasi verloren“, gab ich verzagt zurück. „Ich habe null Orientierungssinn.“ Anh seufzte: „Ich habe dich gewarnt.“

Mein Vietnam-Paralleluniversum ist überaus höflich und zuvorkommend.

Mit Killerblick und meiner Tasche umgeschnallt wie ein Brustpanzer wagte ich mich schließlich auf die Straßen Hanois. Alle paar Minuten checkte ich in einer Ecke verstohlen mein Handy. Links? Rechts? Geradeaus? Die Einheimischen warfen mir irritierte Blicke zu: Was zum Teufel macht die da? Nach zwei Tagen war ich ihrer Meinung. Ja, was zum Teufel machte ich da wirklich?! Keine Ahnung, in welchem Vietnam meine Schwester, Anh & Konsorten sich herumgetrieben hatten. Mein Vietnam-Paralleluniversum ist überaus höflich und zuvorkommend. Immer wenn ich Straßenhändlern statt einem 10.000-Dong-Schein 100.000 vietnamesische Dong reiche – die Dinger sehen zum Verwechseln ähnlich aus –, weisen sie mich freundlich darauf hin. Keiner hat sich bisher als Hobbykrimineller an mir versucht, aufs Handy schaue ich mittlerweile ungeniert.

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Furchtlose Amazonen auf Motorrädern

Ich mag die Vietnamesen. Aber vor allem mag ich die Frauen in den Großstädten hier. Meiner Meinung nach die coolsten Weiber Asiens. Sie sind klug, gebildet, ehrgeizig und machen keinen Hehl daraus. Vor allem aber brettern sie wie furchtlose Amazonen auf ihren Motorrädern durch Hanoi und Saigon, wo sich ihnen sekündlich ein lebendes Verkehrshindernis in den Weg stellt. (Gestern habe ich sogar suizidale Gänse auf einer Kreuzung gesichtet.)

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Vananh ist so eine. Sie ist 20, studiert Chemie und teilt sich mit neun anderen Mädels den Schlafsaal im Studentenwohnheim. Einen Freund? „Keine Zeit dafür. Erst mal will ich Karriere machen, dann sehe ich mich um.“ Heiraten will sie mit 25 Jahren. Frühestens. Oder sonst halt mit 27, 29, 31 oder 33. „Ich hab’s mit ungeraden Zahlen.“

Foto: Waltraud Hable

Um ihr Englisch zu verbessern (und weil man mit neun Zimmer-Kolleginnen zwangsweise einen Lagerkoller entwickelt), führt Vananh in ihrer Freizeit Touristen durch Hanoi. Kostenlos. Ich hab nur die Hälfte von dem verstanden, was sie von sich gab. Umgekehrt ging es ihr genauso. Es war einer der nettesten Abende seit langem. Vananh mästete mich. Ich musste Eier-Kaffee, ein schleimig-wunderbares Dessert namens Chè und die Steinfrüchte des Dracontomelon-Baums probieren.

Nur wer seine Wurzeln hegt und pflegt, kann wachsen.

Als wir an einer Pagode vorbeikamen und ich die Geschichte dahinter wissen wollte, meinte sie: „Keine Ahnung.“ Ein Großteil der Vietnamesen bezeichnet sich als konfessionslos. „Aber du hast doch erzählt, ihr habt einen Altar bei dir daheim?“, war ich verwirrt. – „Ja, aber nicht für Buddha oder für Götter. Der Altar ist für meine Großeltern. Ihnen bringen wir jeden Morgen ein Geschenk dar. Eine Mango. Eine Dose Bier. Kekse. Alles, was sie gerne mochten. Und am 1. und 15. des Monats verbrennen wir für sie Papiergeld: Geistergeld, das sie in der neuen Welt auf den Kopf hauen können. Was macht ihr mit euren Ahnen?“– „Wir stellen ein Bild und eine Kerze daheim auf. Die Kerze zünden wir an besonderen Tagen an.“ – „Das ist alles?!“ – „Ja. Manchmal gehen wir auch auf den Friedhof. Wieso erstaunt dich das so?“ – „Weil deine Ahnen wirklich wichtig sind.“ – „Ich weiß, ich mochte meine Großeltern, die waren super.“ – „Sie sind deine Wurzeln.“ - „Ich weiß, Vananh.“ – „Nur wer seine Wurzeln hegt und pflegt, kann wachsen.“

Ich sagte nichts. Ich überlegte mir die Sache mit dem Altar für daheim. Irgendwie machte das Sinn.
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