Gisbert forscht: Das bange Warten
Wieso mache ich alles, nur nicht das, was ich eigentlich machen sollte? Obwohl es keinen Grund dafür gibt? Wieso geht’s so unglaublich vielen Leuten genau wie mir? Prokrastination: Wie ich versuchte, meine Aufschieberitis in den Griff zu kriegen.
Es ist Freitag, 8.25 Uhr. Heute muss ich diesen Text abgeben. Er soll von Prokrastination handeln, also von der Angewohnheit, Dinge aufzuschieben. Der Text ist eigentlich so gut wie fertig. Ich hab zu dem Thema über die Jahre eine solide praktische Expertise aufgebaut, ich hab in den letzten Wochen die theoretischen Ergänzungen dazu recherchiert, mit Fachleuten geredet, Onlineseminare besucht.
Es ist ausreichend Material für mindestens drei Texte beisammen, da wird sich ja einer bis zum Nachmittag schreiben lassen, um halb fünf bin ich locker fertig, noch acht Stunden, dann geht der Text in die Redaktion und der Gisbert ins Wochenende.
Der Text beginnt damit, dass ich ein neues File öffne, als „prokrastination_ gisbert.doc“ abspeichere, vom Schreibtisch aufstehe, mir einen Kaffee mache und mein Gehirn einen Frühstart hinlegt: Es erinnert mich zugleich daran, dass die Bettwäsche wieder einmal gewechselt gehört, dass ich eigentlich das Altpapier rausbringen und meine Mutter zurückrufen wollte.
Das mach ich schnell, bevor ich’s vergess, ist ja gleich erledigt, und hab ich heute mein Magnesium eigentlich schon genommen? Das Omega 3 ist aus! Während die Bettwäsche durch die Waschmaschine schleudert, das Altpapier im Container entsorgt ist, meine Magnesiumspeicher gefüllt sind und das Internet zu Vor- und Nachteilen von Fisch- versus Algenöl durchrecherchiert ist, hol ich mir noch einen Kaffee und setz mich an mein leeres File.
Ich schreibe „Wie ich meine Aufschieberitis in den Griff bekam“ hin. Guter erster Satz, denke ich, das interessiert die Leute sicher. Dann geh ich noch schnell Pipi.
Du hast es vielleicht schon erkannt: Ich habe ein Talent zum Prokrastinieren. Ich bin echt gut im Anderesachenmachen. Ich erledige Dinge nicht dann, wenn ausreichend Zeit dafür wäre, sondern wenn keine Zeit mehr dafür ist. Das klingt recht lustig. Aber wenn man ehrlich ist: Es ist schrecklich unangenehm.
Denn Prokrastination bedeutet, dass man wahnsinnig viel Zeit vertändelt, mit Herumgedaddel auf dem Handy, auf Instagram oder YouTube, dass man dauernd irgendwas macht, aber eben nie das, was man eigentlich gerade tun wollte oder sollte. Man macht wirklich alles, solange es nicht das ist, worum es geht.
Vorhin hab ich sogar den Ausguss der Dusche geputzt, statt an diesem Text weiterzuschreiben. Prokrastination ist nicht Faulheit oder Müßiggang, das missverstehen viele Leute. Prokrastination ist wie aufs Gas steigen, während irgendjemand die Kupplung getreten hat, du kommst keinen Meter weiter, und trotzdem geht dir die Kraft aus. Du hast die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, und das ist vielleicht das Schlimmste dran: Wenn du prokrastinierst, bist du nicht jetzt und nicht hier.
Du kannst die tollste Doku auf Netflix ansehen, das erste wirklich lustige Katzenvideo auf YouTube, du kannst fünfhundert Likes auf Facebook kriegen, weil du das erste lustige Katzenvideo der Welt geteilt hast. Aber dein Kopf ist nicht dabei. Du bist jede Sekunde bei der einzigen Sache auf der Welt, die du gerade nicht machst.
Prokrastination ist wie aufs Gas steigen, während irgendjemand die Kupplung getreten hat, du kommst keinen Meter weiter, und trotzdem geht dir die Kraft aus.
Prokrastination ist das Gegenteil von Faulheit und Müßiggang. Sie ist das Gegenteil von Nichtstun. Prokrastination ist die gemeinste Form von Selbstüberlastung.
Prokrastination, habe ich in den vergangenen Wochen gelernt, ist auf dem besten Weg, eine Volkskrankheit zu werden. Das hat mit unserem Leben insgesamt zu tun, mit dem Tempo, der Lautstärke, den Handys, den Notifications, den sozialen Medien, das hat damit zu tun, dass die ganze Welt jederzeit Zugriff auf uns hat, und das hat immer mehr auch mit dem Homeoffice zu tun: Nirgendwo gedeiht Prokrastination wie an einem Arbeitsplatz, der eingepfercht ist zwischen Verlockungen und Verpflichtungen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben.
Es wird, sagen Leute, die sich auskennen, in den nächsten Jahren zur Superpower werden, beruflich und privat, eine Immunität gegen Prokrastination aufzubauen: Erfolgreich und glücklich wird sein, wer sich auf eine Sache konzentrieren kann, wer gelernt hat, inneren und äußeren Ablenkungen eisern zu widerstehen. Vor ein paar Jahren galt Multitasking als Königsklasse. In ein paar Jahren wird man jeden beneiden, der Monotasking kann.
Es ist 11.55 Uhr. Mein Leben fühlt sich ein bisschen nach Zerotasking an. „Fünf vor zwölf“, denke ich, während mich vom Monitor das File „prokrastination_gisbert.doc“ grellweiß anstrahlt, nur der Satz „Wie ich meine Aufschieberitis in den Griff bekam“ steht mutterseelenallein da. Er wirkt tapfer und mittlerweile vielleicht einen Hauch zu zuversichtlich. Ich lösche ihn zur Sicherheit und sichere ein leeres Textfile, am Fuß des Dokuments steht: „0 words, 0 characters“. Das ist für einen Schreibvormittag keine beeindruckende Ausbeute.
Zeit für eine kleine Mittagspause muss trotzdem sein, denke ich, gute Idee, jetzt das File schließen, bewusst entspannen, ich nenne das: den Dopaminresetknopf drücken. Denn ich habe in meinen Recherchen gelernt, dass Prokrastination viel mit Dopamin zu tun hat, unserem Belohnungs-Sucht-Glückshormon. Dopamin wird ausgeschüttet, wenn wir etwas Tolles (oder eben auch etwas Nichtganzsotolles) erreicht haben, wenn uns etwas gelungen ist oder wenn wir Anerkennung und Aufmerksamkeit von anderen bekommen.
Vor ein paar Jahren galt Multitasking als Königsklasse.
Wenn man zum Beispiel Hunger hat und endlich was zu essen kriegt: Dopamin. Wenn man eine lebensgefährliche Stelle auf einem Klettersteig überwunden hat: Dopamin. Kokain, Alkohol, Zucker, Fortpflanzung: Dopamin. Das alles freilich ist nichts dagegen, wenn man einen Text über Prokrastination fertig geschrieben und tatsächlich noch in letzter Sekunde rechtzeitig abgegeben hat. Weil dann: Dopaminsilvesterfeuerwerk.
Das Problem an der Sache: Dopamin will nicht warten. Dass in acht Stunden ein Dopaminvulkan ausbrechen wird, weil dann nämlich ganz sicher der Prokrastinationstext fertig sein wird: egal. Die Prise Dopamin, die wir jetzt kriegen, für ein verirrtes Like auf ein dümmliches Instagram-Posting, die nehmen wir. Wir tauschen die lächerliche Dopaminkostprobe, die es sofort gibt, gegen die fette Dopaminfamilienpackung, die es später geben könnte.
Das ist auch der Grund, warum wir Projekte bis zum letzten Moment aufschieben: Einen Text zu schreiben, wenn er noch nicht unbedingt geschrieben werden muss, schüttet ein paar Tröpfchen Dopamin aus. Aber Lebensgefahr, Drama, Scham und ewige Verdammnis, weil ich wieder einen Termin geschmissen habe und dann doch gerade noch, atemlos, mit verendender Kraft auf den Senden-Knopf drücke, um einen Text abzuschicken? Dopaminhimmel. Das ist nicht intelligent. Aber das ist halt so. Intelligenz ist für Dopamin ein Jausengegner.
Halb zwei. Langsam wird es ernst. Jedes Mal, wenn mein Mailprogramm bimmelt, habe ich Angst, dass es die Eva sein könnte, Chefin vom Dienst in der carpe diem-Redaktion. Hätte ich nicht so viel Material zusammenrecherchiert und wäre nicht der Text in meinem Kopf quasi schon geschrieben, denke ich, hätte ich jetzt einen guten Anlass für ein wenig Panik.
Ich überprüfe noch schnell, ob mein letztes Instagram-Posting schon ein Like gekriegt hat, und kriege vom Algorithmus ein kurzes Video über Produktivitätshacks vorgeschlagen; dort erfahre ich, dass Menschen schon 1400 vor Christus prokrastiniert haben. Man hat in Ägypten Hieroglyphen gefunden, die die Arbeiter ermahnt haben, ihre Arbeit nicht liegen zu lassen, damit sie dann alle abends pünktlich heimkommen.
Ich nehme mir vor, das in meinem Text zu erwähnen, aber eigentlich würde das ja gar nicht zu meinem anderen Gedanken passen, das alte Ägypten und Internet-Katzenvideos, ich verwerfe die Idee also wieder. Ich lese noch einen anderen Text über Prokrastination, der keine neuen Informationen enthält. 0 words, 0 characters.
Wenn das Tun darauf wartet, dass die Motivation so weit ist, dann passiert nichts.
14.10 Uhr. 15 Uhr. Ich war kurz spazieren, um den Kopf freizukriegen. Ich notiere mir: Es gibt drei Aspekte, die unbedingt noch in den Text reinmüssen, weil sie wirklich hilfreich sind. Erstens geht es um den Zusammenhang von Motivation und Tun. Der ist sehr einfach. Es geht nur um die Reihenfolge: Wenn das Tun darauf wartet, dass die Motivation so weit ist, dann passiert nichts. Denn es ist in Wahrheit umgekehrt. Die Motivation wartet auf das Tun.
Das gilt für alles, was ein bisschen mühsam ist und man gerne angehen würde, also auch fürs Fitnesstraining. Beim Laufen ist der erste Schritt der schwierigste, wenn man den hinter sich hat, wird’s mit jedem Schritt leichter. (Je nach Kondition hat diese Grundregel eine Halbwertszeit von ungefähr 1.000 bis 10.000 Schritten.)
Beim Schreiben ist es der erste Satz: Den musst du hinschreiben. Und einen zweiten dazu. Und einen dritten. Ob der gut ist oder nicht: egal. Wer einfach vor sich hin tut, ohne das zu bewerten, was er tut, der kommt unweigerlich irgendwann in die Motivation. Ich schreibe also einen Satz hin, einfach so, was mir gerade einfällt: „Der Text beginnt damit, dass ich mir einen Kaffee mache.“
Den find ich jetzt gar nicht schlecht für einen Satz, den man nicht bewerten muss. Guter Anfang. Zweitens geht es um Perfektionismus. Das hat ein bisschen mit dem Erstens zu tun. Es geht darum, dass man mit einer Arbeit gar nicht beginnt, weil man Angst davor hat, sie könnte nicht so gut gelingen, wie man das von sich erwartet. Das fühlt sich leider weniger kompliziert an, als es klingt.
Ich weiß nämlich aus Erfahrung: Wenn man mit der Abgabe eines Textes so lange wartet, bis alles in der Redaktion im Terminchaos versinkt, ist es irgendwann nicht mehr so wichtig, ob der Text, den man abgibt, gut ist oder nicht, sondern es ist nur noch wichtig, dass irgendein Text abgegeben wird. Das nimmt schon auch ein wenig Druck. Ich schreib also weiter, ohne zu bewerten.
Frei von Perfektionsanspruch tippe ich: „Ich habe ein Talent zum Prokrastinieren. Ich bin echt gut im Anderesachenmachen. Ich erledige Dinge nicht dann, wenn ausreichend Zeit dafür wäre, sondern wenn keine Zeit mehr dafür ist.“ Ich lass das mal so stehen. Löschen kann ich’s ja immer noch. Drittens geht es ums Warum. Ich habe bei meinen Recherchen gelernt und im Notizheft fett unterstrichen: Wenn man eine Arbeit nur angeht, weil man einen Abgabetermin hat oder weil man Geld verdienen muss, dann kommt man nicht weiter.
Weiter kommt man dann, wenn man seinen eigenen größeren, höheren, innereren Grund hat, warum man diese Arbeit machen will. Mit dem richtigen „Warum“ fällt angeblich alles leichter, Projekte erledigen sich rechtzeitig und mühelos, und die Tasche fürs Fitnesscenter packt sich quasi von allein. Ich beginne in das „Warum“ -Thema ein bisschen tiefer reinzurecherchieren, und um 21.14 Uhr schreibe ich der Eva ein Mail, dass sie den Text am Montag kriegt, ganz sicher.
Gisbert Knüphauser beschäftigt sich als carpe diem-Autor mit medizinischen Themen und deren Grenzbereichen.
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