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Ich musste dieser Tage viel über Grenzen nachdenken. Sowohl geografischer als auch die persönlicher Natur. Erstere sind schnell erklärt (eigene Grenzen hingegen zu überschreiten wird schon schwieriger ...): Nachdem sich die Pandemie leider langsamer vertschüsst, als wir alle gehofft haben, plagen mich als digitale Nomadin Fragen wie: Welches Land hat „geöffnet“? Welche Grenzen sind dicht? Wo komme ich wie hinein, welche Tests und Nachweise brauche ich? Das Ganze erinnert an ein Labyrinth. Man läuft ständig wo dagegen und holt sich blaue Flecken.

Das Ganze erinnert an ein Labyrinth. Man läuft ständig wo dagegen und holt sich blaue Flecken.

Also habe ich beschlossen: Ich mach bei dem Irrgang nicht mit. Noch nicht. Ich bleibe so lange in Rio de Janeiro und in Brasilien, bis die Gnadenfrist für Corona-Visa-Verlängerungen ausgereizt ist und ich das Gefühl habe, mich wieder halbwegs frei bewegen zu können.

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Surfer am Strand

Bild: Waltraud Hable

Julie, eine Reise-Freundin mit französischen Wurzeln, handhabt es ähnlich. Aktuell sitzt sie rund 1.200 Kilometer von mir entfernt, in der brasilianischen Küstenstadt Florianópolis. Wir tauschen uns regelmäßig über Dinge aus, die nur verstehen kann, wer ebenfalls aus dem Koffer lebt. Bei unserem jüngsten Gespräch allerdings wurde schnell klar: Wir sitzen nicht nur in puncto Weiterreise im selben Boot, sondern offenbar auch, was unsere emotionalen Grenzerfahrungen betrifft.

Wir sitzen nicht nur in puncto Weiterreise im selben Boot, sondern offenbar auch, was unsere emotionale Grenzerfahrungen betrifft.

„Wie läuft’s beim Surfen?“, fragte ich. Julie hat sich in den Kopf gesetzt, Wellenreiten zu lernen. Seit einem Jahr macht sie nichts anderes. „Frag nicht“, brummte sie. „Ich habe das Gefühl, ich komme keinen Schritt weiter. Ich scheitere immer wieder an derselben Sache. Die kleinen Wellen kann ich nehmen. Aber kaum geht es an die großen Wellen, schiebe ich Panik. Dann sitze ich draußen im Wasser auf meinem Brett und heule ohne Ende, so, dass ich mich kaum mehr beruhigen kann.“

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Surfer spaziert bei Sonnenuntergang am Strand

Bild: Waltraud Hable

Das Ganze liege nicht an fehlender Technik, erklärte sie mir. „Es hat mit meinem inneren Kontrollfreak zu tun. Kleine Wellen scheinen mir überschaubar. Aber große Wellen zu reiten bedeutet, loszulassen, dem Jetzt und der Intuition zu vertrauen. Ich stehe mir selbst im Weg, aber ich weiß nicht, was ich tun soll.“ – „Dann sind wir schon zwei“, seufzte ich. „Mir geht’s so mit Samba. Den Grundschritt verstehe ich. Aber zwischen Samba verstehen und Samba leben ist ein Riesenunterschied. Ich habe das Gefühl, der Tanz bricht mich von innen auf.“

Aber große Wellen zu reiten bedeutet, loszulassen, dem Jetzt und der Intuition zu vertrauen.

Mit Samba, dem offiziellen Tanz des Rio Karnevals, habe ich in Brasilien begonnen, weil ich endlich eine dieser selbstbewussten, lebenslustigen und stolzen Frauen sein wollte, die ihre Weiblichkeit zelebrieren und mit dem Hintern wackeln, als gäbe es kein Morgen. Während des Lockdowns hielt meine Lehrerin Online-Stunden ab. Ich redete mir kurz ein, ich hätte Fortschritte gemacht. Aber offenbar war die Videoübertragung nicht immer scharf gestellt und meine Lehrerin sehr, sehr gnädig.

Grenzerfahrung beim Sambatanzen Waltraud Hable

Bild: Waltraud Hable

Als ich jetzt bei ihr im Studio in Ipanema aufschlug und sie mich live herumzappeln sah, wurde schnell klar: Au weh. „Hör auf zu denken. Die Energie muss aus dem Unterleib kommen, dort, wo dein Beckenboden und das Wurzel-Chakra sitzt“, sagte meine Lehrerin. Und mir schossen vor Frust die Tränen in die Augen. Ich schaffe es nicht, den Beckenboden vollends zu entspannen.

Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren, obwohl ich weiß, dass Kontrolle ein Fantasiekonstrukt ist.

Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren, obwohl ich weiß, dass Kontrolle ein Fantasiekonstrukt ist. Man hat keine Kontrolle, über gar nix. Man hat nur Angst, Scheu oder Scham. Und manchmal, wenn ich für Millisekunden spüre, wie es sich anfühlen könnte, macht mich das noch wütender, weil ich nicht weiß, wie ich diesen Zustand halten soll.

In diesem Moment mussten wir beide lachen. „Ich schätze, die wahre Grenze ist zwischen Körper und Geist“, sagte Julie. „Wir sind beide verkopft, und die körperliche Betätigung bringt Dinge ans Licht, die wir uns nicht zu artikulieren oder auszuleben trauen.“ – „Samba-Queen wird jedenfalls keine aus mir, das gebe ich dir schriftlich“, sagte ich. Stille.

Ich schätze, die wahre Grenze ist zwischen Körper und Geist

Nachsatz. „Aber weißt du was? Wir können trotzdem verdammt stolz auf uns sein. Wir tauchen zumindest jeden Tag wieder aufs Neue auf, um es zu probieren.“ Ich marschiere weiter ins Samba-Studio, auch wenn ich weiß, dass ich mich blamiere. Und Julie checkt jeden Tag mit dem Surfboard unterm Arm das Meer ab.

Traut sie sich das zu? Und auch wenn sie am Ende heulend aus dem Wasser kommt – was zählt ist: Sie hat es zumindest versucht.