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Beginnen wir mit einem kleinen Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Welt ohne Farben vor. Alles, was bunt ist, ist einfach ausradiert. Stattdessen regieren unzählige Nuancen von Grau. In einer Welt ohne Farben … könnten wir auf den ersten Blick einen Apfel nicht von einer Nektarine unterscheiden.

Oder, was blöder in puncto Gesundheit wäre: Ein Fliegenpilz käme optisch einem Steinpilz gleich. Wie würde sich zeigen, ob die Ampel rot ist? Oder ob man blass um die Nase ist?

In einer Welt ohne Farben wäre immer unklar: Ist das meine Zahnbürste oder seine? Sind die Blätter des Gummibaums gesund? Wurde Milch oder Rotwein ins Glas eingeschenkt? Und dann … Korallenschnorcheln, Mohnblumenfelder, die alten Meisterwerke im Kunstmuseum, die rotorange Blätterexplosion im Herbst: All diese Erlebnisse wären ihrer Magie und Schönheit beraubt.

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Haarfärbemittel? Was sind Haarfärbemittel? Sie wären nicht erfunden. Hautfarben im Übrigen auch nicht (und das wäre wahrscheinlich das einzig Gute an einer Welt grau in grau). Und auch das wundervolle Knallblau des Himmels an klaren Tagen bliebe unbemerkt. Die Liste ließe sich endlos weiterführen.

Aber was das Ganze eigentlich zeigen soll: Erst wenn man sich eine Welt ohne Farben vorstellt, beginnt man zu begreifen, welche Rolle die rund zwanzig Millionen Nuancen, die das menschliche Auge erfassen kann, in unserem Leben spielen. Farben dienen nicht nur dazu, Dinge aufzuhübschen oder optisch unterscheidbar zu machen. Sie sind das größte Kommunikationsnetzwerk der Welt.

Leuchtende Wegweiser und Kostümierungen, mit denen die Tier- und Pflanzenwelt mitteilt: „genießbar“ oder „giftig“, „gesund“ oder „krank“, „Alarm“ oder „alles gut“.

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Entscheidendes Leitsystem

Damit nicht genug: Farben beeinflussen auch Entscheidungen, indem sie – meist unbewusst – Emotionen in uns wecken. Jeder hat schon einmal erlebt, dass sich von einer Sekunde auf die andere unsere Stimmung ändert, ohne dass man einen wirklichen Grund dafür ausmachen kann.

Bis man draufkommt: Die Umgebungsfarbe oder die Lichtstimmung hat sich geändert – und die zieht die Mundwinkel nach oben oder unten. Die üblichen Verdächtigen sind dabei Sonnengelb, Knallpink und Orange – sowie dunkle, gedeckte Farben wie Blau, Schwarz oder Beige-Braun. So weit der grobe Raster.

Aber es gibt tausende spannende Assoziationen: Rot etwa kann Heißhungerattacken auslösen. Wir sind seit Neandertaler-Tagen davon geprägt, diese Farbe mit „reif“, „süß“, „sättigend“ zu verbinden. Ein Umstand, den sich Restaurantbetreiber und Fast-Food-Ketten zunutze machen und in ihren Logos, bei der Einrichtung und in der Lichtstimmung gern auf Rot setzen.

Allerdings: Wie wir das bunte Leitsystem deuten, gestaltet sich bei jedem etwas anders. Denn es spielt nicht nur die Evolution mit herein. Auch Kindheitserlebnisse und unsere Persönlichkeit haben Einfluss. Extravertierte Menschen bewerten vielleicht einen rot gestrichenen Shop als positiv, während introvertierte Gemüter diesen als zu kreischend und zu laut empfinden.

Auch der Kulturkreis, in dem wir aufwachsen, prägt unsere Farbwahrnehmung. Während hierzulande die Farbe Schwarz für Trauer steht, ist das in vielen Teilen Asiens Weiß – und in Mexiko wird gar Orange mit dem Tod assoziiert. Zum Día de los Muertos, dem „Tag der Toten“, findet man auf den Gräbern reihum orange leuchtende Ringelblumen.

Meine Farbe, deine Farbe

Richtig spannend wird’s übrigens, wenn man sich die Frage stellt: Was, wenn man in seiner Sprache kein Wort für eine Farbe hat? Sieht man sie dann überhaupt? Der namibische Volksstamm der Himba tut sich zum Beispiel schwer, Blau von Grün zu unterscheiden. Nicht etwa, weil die Volksgruppe farbenblind wäre (die Himba können sogar mühelos zwischen unzähligen Grüntönen, die für unsere Augen alle gleich aussehen, differenzieren).

Aber für Blau, das bei Pflanzen und bei Nahrungsmitteln prinzipiell selten vorkommt, haben sie kein eigenes Wort. Zeigt man den Himba eine Fläche mit grünen Kästchen, in denen sich ein blaues Kästchen versteckt hat, finden sie es nicht. Für sie ist Blau dasselbe Wort wie Grün. Und ebenso sehen sie Blau auch nicht.

Das bringt uns auch schon zum nächsten Punkt: Sehen alle Lebewesen die Welt gleich? Die Antwort lautet „nein“ – obwohl Farbe physikalisch gesehen immer das Gleiche ist: Es ist sichtbares Licht in Form von elektromagnetischen Wellen.

Und für das menschliche Auge gilt: Es kann im Bereich von 380 bis 780 Nanometern sehen. 380 Nanometer sehen wir als Farbton Violett, Licht mit 750 Nanometern als Rot. Dazwischen liegt das ganze Spektrum von Blau über Grün bis hin zu Gelb und Orange. Tiere haben aufgrund der Beschaffenheit ihrer Augen oft eine andere Bandbreite. Manche Lebewesen können auch sehen, was für uns Menschen unsichtbar ist: Insekten etwa sehen ultraviolettes Licht ganz ohne den Einsatz von Schwarzlichtlampen.

Dass wir Farbe sehen, liegt übrigens an lichtempfindlichen Sinneszellen unser Netzhaut. Zwei verschiedene Arten von Rezeptoren – Stäbchen und Zapfen – agieren quasi als „Farbmischer“. Während die Stäbchen uns Hell-Dunkel-Kontraste wahrnehmen lassen, ermöglichen die drei verschiedenen Zapfenarten – wir Menschen gelten als Trichromaten – unser hochauflösendes Farbsehen.

Konkret heißt das: Eine Zapfenart spricht auf Rotpigmente an, die anderen beiden auf Grün und Blau. Und aus diesen drei Farben ergibt sich die ganze wundervolle Palette, die wir kennen.

Von Blumen und Bienen

Damit hören wir mit dem Biologie-Auffrischungskurs auch schon wieder auf.

Halten wir einfach fest: Würden Mensch und Tier dieselbe Sprache sprechen, würde man schnell draufkommen – wir mögen zwar auf dasselbe schauen, sehen es aber völlig unterschiedlich. Ein gutes Beispiel dafür sind Bienen. Die kleinen Pollenbrummer lieben die einheitlich gelben Blüten des Scharbockskrauts. Zumindest sehen die Blüten für unsereins einheitlich gelb aus.

Die Biene sieht aber viel mehr: Weil die Pflanze UV-absorbierende Blüten hat, erscheint den Insekten das Zentrum der Blüte wesentlich dunkler, fast schwarz, der Biene wird so quasi optisch vermittelt: „Hier bitte landen, bestäube mich!“

Auch interessant: Blaue Kontaktlinsen konnten in einem Versuch mit Epilepsiepatienten die Anfälle um 77 Prozent verringern. Auch spannend: Die Augen von Fröschen nehmen nur Grün und Blau wahr. Bei Gefahr springen die Quaker vom grünen Blatt ins blaue Wasser. Löwen wiederum sehen die Welt hauptsächlich in Schwarz-Weiß, weil sie vor allem in der Dämmerung jagen.

Für ihr Überleben zählt, Kontraste in der Steppe und die Fellzeichnung der Beute (z. B. Zebras) gut ausmachen zu können. Der Rest ist eher nebensächlich, darum sind ihre Augen auch entsprechend entwickelt. Das erklärt auch, warum Katzen sich nicht auf Farben dressieren lassen, Hunde schon – allerdings fehlt Letzteren die Wahrnehmung des roten Farbspektrums. Blindenhunde sehen zum Beispiel nicht, ob die Ampel rot oder grün ist (aber sie reagieren auf die Helligkeit).

Den Code knacken

Kurz: Wir leben in einer faszinierenden Welt voller Farbcodes. Und wer den Gedanken, dass nicht alles so ist, wie es vielleicht scheint, erst einmal zulässt, wird die Welt mit neuen Augen sehen. Man beginnt sich zu fragen, wo und wieso die Natur mit uns kommuniziert. Will sie uns mit dieser Farbe warnen, anlocken, etwas Gutes tun? Wo zeigt sie Wege auf, die ich (noch) nicht erkenne?

Und am Ende steht auch die Frage: Ist meine Wahrheit die absolute Wahrheit? Wie könnte ich Dinge noch anders sehen?

Wir können versichern: Dieses Entdecken und Hinterfragen macht Türen in eine Welt auf, die noch bunter und vielschichtiger ist, als unser Geist es sich vorstellen kann. Viel Vergnügen beim Hinschauen – und bei den Farbgeheimnissen, die wir auf den kommenden Seiten lüften.