Das Longevity-Tagebuch von Stephanie Fuchs-Mayr erscheint als Serie. Alle bisherigen Folgen kannst du hier nachlesen. Die jeweils aktuelle Folge der Woche findest du jeden Donnerstag im carpe diem Newsletter.

Was bisher geschah:

Folge 1: Der Optimierte hat eine Idee

Es beginnt mit einem Anruf des „Optimierten Wagner“. Wir kennen uns schon lange, und ich bin eine der wenigen, mit der der Wagner hin und wieder einen Wein trinkt. Am Ende dieser Reise werde ich – so viel sei verraten – viele Wochen über kein Glas Wein mehr getrunken haben. Nicht mit dem Wagner, und auch mit sonst niemandem.

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Der Wagner sagt folgendes: Du könntest die Richtige für einen spannenden Selbstversuch sein. Es geht um Essen.

Ich google „Funktionelle Medizin“, während der Optimierte Fachausdrücke ins Telefon schwärmelt. Der Optimierte sagt, er glaubt, dass dieses Experiment im besten Fall mein nach diversen Antibiotika-Kuren wohl kaum noch existentes Mikrobiom wieder zum Leben erweckt. Dass ich möglicherweise besser schlafen werde. Möglicherweise nicht schon nach einem halben Tag Arbeit wie ein frisch betäubtes Nashorn zusammenfalle.

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„Eh, cool, klingt spannend!“, antworte ich, während ich Spaghetti Carbonara (3 Eier, 100 g Parmesan, 100 g Pancetta) zubereite. „Aber: ausgerechnet ich? Eine hauptberufliche Fressschreiberin?“

Ja, eben, sagt der Optimierte gelassen, und schiebt hinterher: „Außerdem könntest du dann auch mal über was anderes schreiben, als über deppert Essen und Saufen die ganze Zeit.“

Vielleicht liegt es daran, dass der Optimierte mich mit diesem Satz gerade mustergültig provoziert hat oder daran, dass jemand oder etwas mich aus den Tiefen meines Gedärms und Gehirns mahnend anschreit: tu das!: jedenfalls stimme ich zu.

Essverhalten, Ernährung und Lifestyle für ein paar Wochen ändern? Pah! Easy, baby.

Zoom Meeting

Vanessa Lovegrove

Folge 2

TAG 0: Aufwärmen mit Kräutertee und Evidenz

Drei Wochen später treffe ich mich mit Sandra Handlbauer-Zrust am Naschmarkt. Das ist die Frau, die mich auf Anraten des Optimierten bei diesem Experiment begleiten wird. Wir bestellen Kräutertee. Sandra erfährt, womit ich mein Geld verdiene. Ich erfahre, dass Sandra in ihrem ersten Leben erfolgreiche Private Bankerin war, sich dann aber dazu entschied, vielbeschäftigten Menschen hauptberuflich dabei zu helfen, ihren Ernährungsalltag und ihren Lebensstil zum Besseren zu verändern. Ihr Unternehmen heißt Aspirant Health, auf ihrer Visitenkarte steht „Registered Nutritional Therapist & Certified Functional Medicine Practitioner.“

Aha. Ich bin ein wenig skeptisch.

Von der Bankerin zur Ernährungstherapeutin ist eine doch recht ungewöhnliche Form des Job-Hoppings. „Und was genau tut so ein Nutritional Therapist & Certified Functional Medicine Practitioner überhaupt?“, frage ich nach.

Sandra erklärt mir in groben Zügen, was mich erwartet. Sie wird meine Gesundheitsgeschichte und Lebensgewohnheiten genau analysieren. Ich werde einige funktionelle Tests absolvieren, und dann auf Basis der Ergebnisse ein individuelles Ernährungs- und Lifestyle-Programm absolvieren.

Das klingt sinnvoll, natürlich, riecht aber auch nach Verzicht und Genussfeindlichkeit. Vor meinem geistigen Auge tut sich kurz das Bild einer jeder Lebensfreude beraubten Frau auf, die bei Körndlfutter in ihrer Wohnung mumifiziert. Aber die Aussicht darauf, in Zukunft vielleicht doch wieder durchzuschlafen, mainstreamig zu verstoffwechseln und tagsüber mehr Energie zu haben, ist zu verlockend. Bin dabei!

Wir starten nach meinem Urlaub.

Labortest

Vanessa Lovegrove

Folge 3

Tag 12:  Willkommen im Tal der Tränen

Während ich auf Urlaub war, hat Sandra meine Schlaf-, Arbeits-, Sport- und Essensroutinen, Zyklusverläufe und Krankengeschichten analysiert, und rät mir in unserem ersten von insgesamt acht Zoom-Meetings zur Absolvierung des „vollen Testprogramms“. Unter anderem möchten wir mittels des sogenannten GI-Effects-Tests (aka Stuhlprobe) herausfinden, ob ich gastrointestinale Krankheitserreger, die Infektionen, Darmentzündungen oder Gastroenteritis verursachen können, in mir trage. Wir möchten auch wissen, wie es um meine Sexualhormone Estradiol, Testosteron und Progesteron und meine Stresshormone DHEA und Cortisol bestellt ist, worauf der sogenannte DUTCH Plus Test (aka Speichel- und Urinproben) Antworten liefern soll. Außerdem auf meiner Tests-to-do-Liste: ein sehr großes Blutbild samt umfassender Nährstoffstatus-Erhebung und ein Glukosetoleranztest. Das klingt in Summe ein wenig zeitaufwendig und abenteuerlich, aber nicht bedrohlich.

Dann fällt das Wort „Elimination Diet“. Das klingt hingegen sehr bedrohlich.

Zu Recht, denn „Elimination“ bedeutet in meinem Fall keine Milchprodukte, kein Zucker, kein Gluten, keine Eier und Kartoffeln, kein Alkohol und möglichst keine Ersatzprodukte.

Ich versuche, mein Entsetzen zu verbergen und lächle tapfer in die Laptop-Kamera, sehe aber anscheinend exakt so aus, wie ich mich fühle. „Ja, ich weiß, das ist eine ziemlich radikale Umstellung“, sagt Sandra mitfühlend. „Aber du musst ja nicht gleich alles auf einmal streichen.“

Okay, sonst noch was, Apfeltasche dazu vielleicht?, denke ich mir, und schäme mich ein bisschen für den Gedanken. Sarkasmus ist der Fallschirm der Frustrierten.

Sandra setzt tatsächlich noch einen drauf: Ich möge bitte drei Stunden vor dem Schlafengehen eine Blaulichtfilter-Brille tragen und nicht mehr handylesen oder fernsehen, um meine Schlafhormonproduktion anzukurbeln. Mein Schlafzimmer in eine möglichst kühle, maximal dunkle Höhle verwandeln. Über den Tag verteilt zur Stressreduktion Box Breathing (vier Sekunden einatmen, halten, ausatmen, pausieren) praktizieren. Und meine Trainingsroutine um leichten Kraftsport ergänzen. Also alles das tun, wozu mich der Optimierte seit Jahren – bislang erfolglos – versucht hat, zu motivieren.

Der Stausee hinter meinen Augäpfeln schwillt bedrohlich an, aber ich bleibe souverän. Bis das Gespräch beendet ist, und die Emotionslawine über mich drüber brettert: Trotz („Fleisch ist okay, aber Joghurt nicht?!“), Selbstmitleid („Was bitte soll ich arme Sünderin abends ohne Netflix und Instagram anfangen?“,) Furcht („Ich werde verhungern!“). Schluchzend schlurfe ich in die Küche und verabschiede mich gedanklich von Butter, Birnenchutney und Champagner.

Später am Tag suche ich Rat bei meiner Freundin Heidi. Wir trinken Macchiatone und essen Trostbrot mit Parmesan. Sie sagt: „Es wird dir besser gehen, wirst sehen. Außerdem wird das superspannend!“. Ich nicke müde und wässere meinen Kaffee mit Tränenflüssigkeit. Danach gehe ich einkaufen.

Kurzhanteln

Vanessa Lovegrove

Folge 4

Tag 15: Zwei Stephies für ein Halleluja?

Nachdem ich das Reformhaus meines Vertrauens aufgekauft, mir ein Set grüne 2-Kilogramm-Kurzhanteln zugelegt, beim Lieblingswirten eine Henkersmahlzeit einverleibt und kaum geschlafen habe, fühle ich mich bereit, loszulegen.

Ich stierle mit einem Wattstäbchen in meinem Mund herum und stopfe Auszüge meines Morgenexkrements in kleine Röhrchen. Rolle hingebungsvoll zuckerfreie Blissballs, bereite Quinoa-Salat zu und knabbere an Karottensticks, als handle es sich um Froschschenkel. Freue mich, dass der Sparkling Tea – ein 0,0%-Sprudel auf Teebasis, verfeinert mit Kräutern und Gewürzen –, so gut schmeckt, und arbeite mich durch Online-Rezeptsammlungen, die zu frequentieren mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Traum eingefallen wäre. Schade eigentlich, denn auf Dinge wie gluten- und laktosefreie Kürbis-Carbonara, Rote-Linsen-Dal oder Rainbow-Bowl habe ich richtig Bock.

Und es passiert noch etwas Gutes: Ich bin endlich wirklich neugierig. Darauf, ob und wie sehr mich der Verzicht auf Gewohntes auf lange Sicht an meine Grenzen bringen wird. Wie sich mein beruflicher und sozialer Alltag verändern wird. Wie die „Ich-genieße-also-bin-ich“- Stephie und die „Ich-verzichte-und-genieße-trotzdem“-Stephie miteinander klarkommen werden.

Overnight Oats

Vanessa Lovegrove

Folge 5

Tag 36: Einmal Fullservice, bitte!

Seit mittlerweile drei Wochen esse, chille und schlafe ich nun schon neu, und habe bisher erfolgreich diversen Versuchungen widerstanden. Wie der, mir in der Mittagspause doch lieber schnell irgendwo einen ungesunden Snack zu checken. Oder der, das Hantelstemmen morgens doch zugunsten einer klitzekleinen Runde Online-Sudoku ausfallen zu lassen.

Um 13 Uhr startet mein drittes Zoom-Meeting mit Sandra, auf das ich besonders gespannt bin. Die Ergebnisse meiner Tests sind nämlich endlich eingetrudelt. Ist mein Körper – wovon ich insgeheim ausgehe – wirklich eine komplette Schrottkarre? Oder braucht er nur ein großes Service?

Antwort: Ein Fullservice braucht er auf jeden Fall, dringend. Die Vitamine D3, B6, B9 und B12 waren in meiner Blutprobe so gut wie nicht nachweisbar. Die benötige ich – wie übrigens jeder Mensch – aber unbedingt, damit mein zentrales Nervensystem und Herz-Kreislauf-System reibungslos funktionieren, ich tagsüber länger leistungsfähiger und weniger krankheitsanfällig bin.

Meine erhöhten Entzündungswerte werden wir mit Omega-3 und einem Mix aus proteinspaltenden Enzymen, Polyphenolen und Pflanzenextrakten versuchen, in den Normbereich zu bringen – was mir meine regelmäßig entzündeten und schmerzenden Hand- und Fingergelenke danken werden.

Dem in meinem Darm in unerwünschtem Überfluss vorhandenen Candida-Hefepilz und meinem SIBO (zur Erklärung: SIBO steht für Small Intestinal Bacterial Overgrowth und bedeutet, dass Darmbakterien, die sich normalerweise im Dickdarm befinden und dort fermentieren, bereits im Dünndarm vorhanden sind – was mächtig Blähungen verursacht) geht es mit einem speziellen Antimykotikum, Probiotikum-Komplex, Oregano- und Knoblauchöl sowie Berberin an den Kragen.

Und zur Senkung meines schon morgens einem Gnu im Todeskampf ähnlichen Cortisol-Spiegels werde ich täglich Adaptogene und einen Aminosäuren- und Mineralienkomplex zu mir nehmen.

Am Ende landen neun verschiedene Nahrungsergänzungsmittel in meinem Online-Warenkorb, Gesamtwert: 400 Euro. Schnäppchen geht anders, auf „Jetzt kaufen“ zu klicken fällt mir dennoch leicht. Auch, weil einst übermächtige, diffuse Gefühlslagen wie „Stress“ gerade etwas von ihrer Macht verloren haben.

Ich weiß nun, dass sie (auch) einer erhöhten Cortisol-Ausschüttung geschuldet – also mechanischer Natur – und damit beherrschbar sind. Wie auch meine Schlafstörungen oder meine Dauermüdigkeit. Ich führe ab jetzt das Regiment, und das fühlt sich fast so fantastisch an, wie in ein frisches Cornetto con crema zu beißen.

Autorin Stephie Fuchs-Mayr arbeitet als Werbetexterin und Journalistin für unterschiedlichste Medien und Agenturen. Seit 2014 liegt ihr Fokus im Kulinarik-Bereich. Ihr mutiges „Projekt: Selbstverbesserung“ ist ihre erste Arbeit für carpe diem. Jeden Donnerstag erscheint eine neue Folge.

Lies hier weiter ab Folge 6:

Über die Expertin

Dieser Selbstversuch wurde begleitet von Sandra Handlbauer-Zrust. Sie ist promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschafterin, Gründerin und CEO von Aspirant Health. Die registrierte Ernährungstherapeutin ist derzeit die einzige in der DACH-Region gelistete „Registered Nutritional Therapist“, die am weltweit führenden US-amerikanischen Institute for Functional Medicine zertifiziert ist.

Was ist funktionelle Medizin?

Funktionelle Medizin (engl. „functional medicine“) ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Gesundheitsversorgung, der sich darauf konzentriert, die Grundursachen von Krankheiten zu finden und zu behandeln, anstatt nur die Symptome zu bekämpfen. Dabei wird der Körper als ein vernetztes System betrachtet, in dem alle Teile zusammenwirken. Für die Behandlung werden die genetischen, biochemischen und Lebensstilfaktoren einer Patientin oder eines Patienten analysiert, um einen individuellen Behandlungsplan zu erstellen. Mehr darüber erfährst du hier: Europäischen Gesellschaft für Funktionelle Medizin (EGFM)