In Partnerschaft mit

Ich werde heute Nacht draußen schlafen. Inmitten von Eis und Schnee. Ich dachte nie, dass ich diese Worte mal schreiben würde, schon gar nicht freiwillig. Aber ja. Schnee und minus drei Grad. Dazu ein Zelt mitten am Berg. Plus meine Wenigkeit, die bereits den Kältetod stirbt, wenn bloß jemand im Winter für ein paar Minuten das Fenster aufreißt. Ob dieses Vorhaben vernünftig ist? Wahrscheinlich nicht. Aber manchen Dingen im Leben muss man sich stellen. Und ich bin es leid, davonzurennen.

„Du hast ernsthaft Österreich wegen der Kälte verlassen?“, fragt Heli, mein Bergführer, als wir mit Steigeisen und schwer beladenen Rucksäcken den Gletscher hinaufstapfen. „Ja“, schnaufe ich und versuche zu ignorieren, dass sich mit jedem Schritt mehr Nässe in meine dreifach imprägnierten Bergschuhe schleicht. Während wir auf das Dachsteinmassiv schauen, das vor uns liegt, kläre ich Heli darüber auf, was ich alles versucht habe: Lagen-Look, viel zu teure Kaschmirpullis, literweise Ingwer-Zitronen-Tee. Eine Freundin hat mir sogar mal eine mobile Heizdecke geschenkt: „Es gibt kein schlechtes Wetter“, meinte sie, „nur schlechte Ausrüstung. Also hör auf zu jammern.“

Die männliche Oberhaut ist um 15 Prozent dicker als die weibliche, das führt zu unterschiedlichem Kälteempfinden.

Anzeige
Anzeige

Letzteren Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen. Denn fallen die Temperaturen unter 15 Grad, passiert stets dasselbe: Ich entwickle Ganzkörpergänsehaut, verlasse nur noch widerwillig das Haus und verdächtige meine Eltern, mich aus der Südsee entführt zu haben. Ärzte haben mir die Sache mit niedrigem Blutdruck („Ist gesund“) und zu wenig Muskelmasse („Kann man mit Training ändern“) zu erklären versucht. Und dass ich als Frau von Natur aus schlechte Karten hätte. „Die männliche Oberhaut ist um 15 Prozent dicker als die weibliche, das führt zu unterschiedlichem Kälteempfinden. Frauenhaut kann – je nach Beschaffenheit – bis zu drei Grad kälter sein als die eines Mannes.“

Obendrein friere der weibliche Körper auch deshalb mehr, weil er bei niedrigen Temperaturen Wärme sofort zur Körpermitte, sprich in Richtung Uterus, leite, wo potenzieller Nachwuchs keimen könnte. „Körperlich ist alles in Ordnung.“ Einzig einen ausgeprägten Hang zur Dramaqueen attestierte man mir.

Als im Winter 2018 mal wieder Eiszeit in Wien herrschte, beschloss ich: Es reicht. Ich habe mir jetzt vier Jahrzehnte lang den Allerwertesten abgefroren, ich mach da nicht mehr länger mit. Ich wandere aus und gehe auf Reisen. Dieser Schritt mag radikal erscheinen. Aber unser Planet hat genug schöne Plätzchen, um der Kälte dauerhaft ausweichen zu können. Warum also weiter leiden? Eben.

Wanderung am Dachstein zum Zelten

Bild: Susanne Einzenberger

Anzeige
Anzeige

Außerdem belegt jedes Medizinbuch: „Der Mensch ist rein biologisch ein tropisches Säugetier, für den eine Außentemperatur von 27 Grad perfekt ist. Bei diesem Wetter kann er sich unbekleidet fortbewegen, und sein Wärmehaushalt funktioniert trotzdem optimal.“ Ich tat also nur, was für meine Spezies vorgesehen war. Und das Konzept „Immer der Sonne nach“ funktionierte dann auch wunderbar.

Bis die Pandemie viele Palmenparadiese dichtmachte und mir dämmerte, dass ich mir die Kälte vielleicht doch noch einmal anschauen sollte, um gegebenenfalls etwas von ihr zu lernen. Darum: Dachstein. Übernachtung draußen. Mit Heli, einem Mann, der auch im tiefsten Winter nur eine dünne Daunenjacke trägt.

Kältestarre mag Insekten, Fröschen und Echsen helfen. Dem Menschen hilft sie nicht.

Beweg dich!

Lektion eins: Kältestarre mag Insekten, Fröschen und Echsen helfen. Dem Menschen hilft sie nicht. Schon gar nicht, wenn es darum geht, eine Behausung für die Nacht aufzubauen. Heli kämpft mit der Zeltplane, die der Bergwind in alle Richtungen fliegen lässt, und ich stehe wie angewurzelt daneben. Meine Nase trieft – der Winter hat sämtliche Schleusen meiner Nebenhöhlen geöffnet –, und meine Finger sind zu klamm, um einen der Heringe in den Schnee zu rammen.

Zelten im Schnee

Bild: Susanne Einzenberger

„Du musst dich bewegen“, ruft Heli mir zu, „nur so wird dir wieder warm.“ Ich weiß, dass er recht hat. Doch ich will einfach weiter meine Gliedmaßen an meinen Körper drücken und so sicherstellen, dass keine kalte Böe durch meinen Anorak fahren kann. Außerdem: Ist nicht erwiesen, dass eine erhöhte Glukosekonzentration Reptilien vor dem Kältetod bewahrt? Vielleicht muss ich einfach nur mehr Kekse futtern, und die Sache wird erträglicher.

Ist nicht erwiesen, dass eine erhöhte Glukosekonzentration Reptilien vor dem Kältetod bewahrt? Vielleicht muss ich einfach nur mehr Kekse futtern, und die Sache wird erträglicher.

Heli greift durch und drückt mir ein Ende des Zelts in die Hand. „Halt das“, schreit er mir zu und löst mich aus meiner Starre. Dann kämpfen wir gemeinsam gegen die Elemente. Ich schiebe den Schnee zusammen, damit das Zelt gerade stehen kann. Wir fädeln Teleskopstangen ein und verbinden sie mit Schlaufen. Mittendrin ziehe ich eine zweite Hose an, setze eine Kaschmirhaube auf und zurre die Anorakkapuze fest, so bleibt zumindest die Birne auf Betriebstemperatur.

Zeltaufbau am Berg

Bild: Susanne Einzenberger

Irgendwann erwische ich mich tatsächlich dabei, zu lächeln. Nicht, weil mir die Sache Spaß machen würde. Aber die Alternative wäre, wie ein Opferlamm dazustehen und mich vom Eiswind foltern zu lassen. Kurz: Es ist keine Alternative. Als ich im Zeltinneren mit meinem Minus-15-Grad-Antarktis-Schlafsack herumhantiere – das Ding war sauteuer, ich habe es mir, sehr zum Amüsement von Safari-Rangern, fürs Camping in Südafrika gekauft, heute steht der Härtetest bevor –, merke ich, wie schnell meine Beine trotz doppelter Stoffschicht auf dem kalten Planenboden auskühlen.

Ich danke den Göttern dafür, dass zumindest eine Person in meiner Familie Hirn hat. Meine beängstigend kluge Schwester hat mir eine Rettungsdecke, eines dieser golden-silbernen Funkelteile, ins Gepäck gesteckt, mit den Worten: „Leg das unter deine Isomatte, so gewinnst du ein, zwei Grad.“ Die Fotografin, die diese Geschichte begleitet, nickt anerkennend. Sie ist ähnlich verfroren wie ich, sie versteht mich, während Heli nur lacht.

Der ist mir ohnehin ein Rätsel. „Ich schlafe da auf dem Felsen, im Freien“, verkündet er gerade und packt sein Zelt wieder weg. Ich schaue ihn entgeistert an. „Wir hätten ganz gerne, dass du diese Nacht überlebst, allein schon aus egoistischen Gründen“, meine ich, „wie kommen wir sonst heil vom Berg runter und sicher durch etwaige Gletscherspalten?“ Heli findet meine Sorgen unbegründet: „Ich wickle mich in meinen Schlafsack, der ist aus Nepal, richtig dick, kein Problem.“

Während sich die Sonne anschickt, kitschig wie in einem Heimatfilm unterzugehen, wird es von Minute zu Minute kälter.

Dann beginnt die Zeit langsamer zu gehen. Auf dem Berg zelten, abgeschieden von der Außenwelt, da passiert wenig. Während sich die Sonne anschickt, kitschig wie in einem Heimatfilm unterzugehen, wird es von Minute zu Minute kälter. Auf 2.700 Meter Höhe gibt es keine Bäume, nur kilometerweit rosa-beige changierenden Kalkstein und Gletschereis. Ein paar Bergdohlen fliegen vorbei und inspizieren, was im Topf auf dem Gaskocher ist. Es gibt Kürbiscremesuppe, die pulverisiert aus einem Päckchen kommt, und Spaghetti mit Sugo aus dem Glas. Binnen einer Minute sind die Nudeln eiskalt, der Winterwind wirkt wie ein Hochleistungsgefrierschrank. Wir lauschen seinem Pfeifen, ansonsten ist es still, man hört nur seine Gedanken und seinen Herzschlag.

Die Fotografin beginnt auf und ab zu springen, um sich aufzuwärmen. Heli richtet heroisch sein Nachtlager auf dem Felsen ein. Ich schlinge meine Arme um meine Knie. Meine Zehen werden nicht mehr warm, egal wie sehr ich sie auch bewege, dafür sind die Schuhe zu feucht. Ich sollte trockene Socken anziehen, aber mit meinen weißen Eisfingern die Schuhbänder aufknüpfen, das ist mir alles zu mühsam. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich erfrieren werde, ist gering“, sage ich mir vor.

Mein Zwiebellook besteht aus einer engen Erstschicht aus Merinowolle, darüber habe ich ein High-Tech-Daunengilet gezogen, eine Fleecejacke, einen Skianorak. Die Zähne klappern trotzdem.

Ich habe eine semiwarme Mahlzeit im Bauch und trage alles so, wie es im Lehrbuch für Möchtegern-Polarforscher steht: Mein Zwiebellook besteht aus einer engen Erstschicht aus Merinowolle, darüber habe ich ein High-Tech-Daunengilet gezogen, eine Fleecejacke, einen Skianorak. Die Zähne klappern trotzdem.

Ich könnte noch ein, zwei Teile mehr überziehen, es würde wenig bringen. Das Problem liegt eine Etage höher. Frieren ist immer auch Kopfsache. Das predigen Experten genauso wie Freunde, die auf die Methode des holländischen Grenzgängers Wim Hof schwören und zur Abhärtung regelmäßig in Eisbäche oder unter die kalte Dusche springen. Ich weiß, was sie meinen. Aber für kalte Duschen bin ich im Vorfeld nicht masochistisch genug gewesen. Ich muss da anders durch. Ich muss mich jetzt selber austricksen.

Zelten am Berg heißt: Warm denken

In dem Buch, das aktuell auf meinem Nachttisch liegt, heißt es, dass der Mensch sich mit seinen Gedanken viel selbst im Weg ist. Konkret schlägt der Autor vor, sich mit positiven Affirmationen eine neue Realität zu erschaffen. Das, was man mantraartig wiederhole, stelle den Geist neu ein. Hm.

Während ich über das ewige Eis schaue, muss ich an unsere Vorfahren denken. Wie der Höhlenmensch sich dazu aufgerafft hat, nur mit Bärenfellen behangen jeden Tag durch den Schnee zu stapfen, ist mir schleierhaft. Und wie meine Eltern lange ohne Zentralheizung überlebt haben, keine Ahnung. Fest steht nur: Wären alle so verweichlicht wie ich, wäre die Menschheit längst ausgestorben.

Wären alle so verweichlicht wie ich, wäre die Menschheit längst ausgestorben.

„Mir ist wohlig warm“, sage ich mir seufzend vor. Hundertmal. Hundertfünfzigmal. Dabei denke ich an den Kachelofen meiner Oma. An einen Typen, mit dem ich mal am Strand geknutscht habe in einer lauen Sommernacht. Eine Studie der Universität Southampton, die ich zur Vorbereitung auf diesen Selbstversuch gelesen habe, will 2012 herausgefunden haben: Nostalgie – sei es in Form von Musik, Erinnerungen, Berührungen – lässt einen kaltes Wetter weniger schlimm empfinden. Die Erinnerungen wärmen uns quasi von innen und sind effektiver als Glühwein. Letzterer wäre im Übrigen ohnehin eine Schnapsidee. Alkohol erweitert die Gefäße, und der Körper gibt folglich mehr Wärme ab.

Dachsteincamping

Bild: Susanne Einzenberger

Jedenfalls: Vielleicht ist es der abgelenkte Geist, aber plötzlich sind meine kalten Zehen kein Problem mehr. Ein kleiner Sieg. Kopf über Körper.

Kraft tanken in der Winterpause

Am Himmel knipsen sich Sterne an. Heli liegt wie eine Mumie auf seinem Felsen, nur seine Nasenspitze schaut noch heraus. Die Fotografin und ich verkriechen uns ins Zelt. Die Theorie besagt, dass es besser ist, wenig Klamotten im Schlafsack zu tragen. Das schaffe ich nicht. Ich behalte alles an außer den Schuhen. Nach wenigen Minuten fühlen sich meine Nieren taub an, die Kälte des Untergrunds ist grausam. Ich wickle einen Schal um meine Hüften und liege ratlos da.

Bis es wieder hell wird, müssen noch zehn Stunden vergehen. Schlafen kann ich nicht. Frieren bringt mich nicht weiter. Was also tun? Ich stelle mir vor, dass der Boden unter mir kein Eis, sondern warmer, goldener Sand ist, in den ich versinke. Ich versuche zu visualisieren, wie die Sonne meine Zehen kitzelt und mein Nacken sich im warmen Wind entspannt. Diese Minimeditation funktioniert nur für ein paar Minuten, aber die Tatsache, dass sie überhaupt funktioniert, reicht mir schon. „Mir ist wohlig warm, warm, warm.“ Irgendwann schlafe ich tatsächlich ein.

Als ich um fünf Uhr früh aus dem Zelt krieche – ich will mir das, was vom Sternenhimmel übrig ist, ansehen, aber vor allem den Sonnenaufgang nicht verpassen –, rutsche ich auf einem spiegelglatten, glitzernden Kristallteppich aus. Der Schnee ist über Nacht komplett gefroren, und ich knalle mit voller Wucht auf dem Eis auf. Fuck. Alles dreht sich, meine Stirn und meine Unterlippe sind aufgeschürft, und unter meinem rechten Knie macht sich binnen Sekunden eine zitronengroße Beule breit. Hätte ich nicht zwei Hosen übereinander getragen, wäre das Ganze in einer Platzwunde geendet.

Die Landschaft rundherum ist angezuckert, die Luft klar, die Welt still.

Mir ist zum Heulen zumute. Warum tu ich mir das an? Ich habe immer gesagt, der Winter ist nichts für mich. Die Fotografin hilft mir wieder auf die Beine, und ich trolle mich wackligen Schrittes auf einen Felsen davon, um die Freilufttoilette zu benutzen.

Nachdem ich mich überzeugt habe, dass Heli noch lebt – er strahlt mich mit rotgefrorenen Wangen ausgeschlafen an –, schaue ich der Sonne zu, die sich den Himmel zurückerobert. Die Landschaft rundherum ist angezuckert, die Luft klar, die Welt still. Hätte ich dem Winter weiter die kalte Schulter gezeigt, hätte ich diese Schönheit nie zu Gesicht bekommen.

Sonnenaufgang am Berg beim Zelten

Bild: Susanne Einzenberger

Aber die Schönheit ist nur eine Sache. Es geht um mehr. Ich beginne zu verstehen, dass alles, was ich mit dem Winter assoziiere – das Frieren, das Nebelgrau, die Mühsal –, nur ein Nebenschauplatz ist. Die Natur weiß schon, warum sie alles runterfährt und lahmlegt. Um im Frühling wieder alles sprießen lassen zu können, muss sie sich ein paar Monate schlafen legen, Ruhe geben, einen Gang runterschalten.

Die Natur weiß schon, warum sie alles runterfährt und lahmlegt.

Erst mit dieser Pause kann sie wieder den Turbo einlegen. „Eine Strategie, die uns Menschen auch guttäte“, denke ich. Wir haben gelernt, so zu agieren, als gäbe es die Jahreszeiten nicht, als stünden wir über den Dingen. Wir geben 365 Tage im Jahr Vollgas, verbannen mit der Sitzheizung fürs Auto und dem wiederaufladbaren Handwärmer den Winter ins Eck.

Aber heißt es nicht: Nur wer zwischendrin langsam geht, hat die Kraft, Großes zu bewirken?

Obwohl mir noch immer eiskalt und meine Nagelhaut mittlerweile rissig ist, schaue ich einen Tick versöhnter aufs Eis. Wenn man weiß, wofür man etwas tut, wird vieles leichter. Und mit der richtigen Einstellung fühlt sich alles gleich fünf Grad wärmer an. Das gilt, wenn ich ehrlich bin, für vieles im Leben.

Kalt ist relativ

Frieren ist oft Kopfsache. Vielleicht hilft ja, sich bei der nächsten Kältewelle dieser drei Fakten zu besinnen:

1. Du könntest auch in Oimjakon sein. Bist du aber nicht. Also: alles gut. Oimjakon in Russlands Fernem Osten gilt als die kälteste bewohnte Gemeinde der Welt. Winter dauern hier acht Monate, im Jänner liegt die Durchschnittstemperatur bei minus 50 Grad.

2. Den Tiefsttemperaturrekord hält die Antarktis. Dort wurden im Jahr 2004 minus 98,6 Grad Celsius gemessen. Laut Physik gibt es bei null Grad Kelvin – das entspricht minus 273,15 Grad Celsius – keine atomare Bewegung mehr. Nichts im Universum kann kälter werden als null Grad Kelvin.

3. Tröstet alles nicht? Dann ab ins Bett. Denn: Wenn wir müde sind, verlangsamt sich der Stoffwechsel, der Blutdruck sinkt, wir kühlen leichter aus.