In Partnerschaft mit

Herr Antonu, was ist Liebe?

Herbert Antonu: „Das kommt drauf an, ob man das Thema psychologisch, hormonell, soziologisch, ethnologisch, anthropologisch oder philosophisch betrachten möchte.“

Sie sind Paartherapeut. Da entscheide ich mich einfach für: psychologisch.

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„Also als Tiefenpsychologe würde man sagen, dass Liebe in vieler Hinsicht eine Projektion ist. Ich bin wie ein Diaprojektor: Ich projiziere das Dia, also mein unbewusstes Frauen- oder Männerbild, meine innere Idealvorstellung, auf eine Leinwand (Person), der ich begegne. Und nach kurzer Zeit empfinde ich: ‚Wir sind seelenverwandt.‘ Dabei kenne ich diese Person noch gar nicht wirklich. Ich liebe also eigentlich mein Bild, das ich auf sie projiziere.“

Und deshalb verliebe ich mich?

„Das gibt den Anstoß. Verliebtheit entsteht, indem wir einander bejahen: ‚Ah, ich esse gerne Pizza Margherita – du auch? Ah, du hörst auch gern John Lennon! Ja, ich gebe dir recht! Ich verstehe dich.‘ – Das ist ein Bejahen des anderen und gleichzeitig eine Einladung: Erzähl mir von dir! Und es ist angenehm zu spüren, dass sich jemand für mich und für das, was ich zu sagen habe, interessiert. Jeder Mensch hat das Grundbedürfnis, angenommen und verstanden zu werden. Und wir wollen für einen anderen Menschen am wichtigsten sein. Das heißt jetzt nicht, dass man dauernd zusammen sein muss, aber es geht zum Beispiel darum, dass mich mein Partner fragt: ‚Wie geht es dir? Wie hast du geschlafen?‘ Interesse, Achtsamkeit, Wertschätzung, Anteilnahme: All das ist etwas, was uns guttut.“

Und wie wird dann mehr aus der ersten Verliebtheit?

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„Wenn der andere viele Eigenschaften hat, die mir guttun, ergibt sich aus der Summe irgendwann der Name Susi oder Peter. Also: ‚Ich liebe es, wie du mit mir umgehst. Ich liebe deine Augen. Ich liebe deine Mimik, deinen Ausdruck. Ich liebe deine Beziehungsvision. Ich liebe dein Lachen.‘ – Das fassen wir für uns zusammen zu: ‚Alles, was mir guttut = Susi/Peter.‘“

Um noch mal auf die Pizza Margherita zurückzukommen: Muss ich denn immer das Gleiche mögen, um mich zu verlieben? Wie wäre es mit: „Ich mag die dunklen Dragee Keksi und du die hellen. Wir ergänzen uns perfekt, weil wir uns nie die Dragee Keksi wegessen!“

„Da braucht es halt eine gewisse Form von Selbstreflexion sowie Toleranz. In der ersten Verliebtheit denkt man nicht so. Aber klar, es gibt ja beide Formulierungen: ‚Gegensätze ziehen sich an‘, ‚Gleich und Gleich gesellt sich gern‘.“

Aber welches davon trifft eher zu?

„Eine gute Mischung. Zwei Drittel ‚Gleich und Gleich gesellt sich gern‘ und ein Drittel ‚Gegensätze ziehen sich an‘. Es braucht die Harmonie und die Reibung. Ich vergleiche eine Beziehung gern mit einem Pfeil. Was braucht ein guter Pfeil? Er braucht eine feste Spitze, die durchdringend ist und das Ziel trifft, aber er braucht auch eine Feder hinten, damit der Pfeil stabilisiert ist und bis zum Ziel gerade fliegt. Jedes für sich allein wäre nutzlos. Oh, das ging schnell. Gerade waren wir frisch verliebt. Jetzt sprechen wir schon über Stabilität in der Beziehung. Eine Verliebtheit, so heißt es, hält etwa sechs Monate an. Ja, und danach trennen sich manche Paare. Idealerweise sollte man es aber schaffen, aus der Phase der Verliebtheit in die Liebe zu kommen.“

Somit ist Liebe auch eine Entscheidung? Ich entscheide mich bewusst für einen anderen Menschen?

„Ich glaube nicht, dass Liebe eine gänzlich bewusste Entscheidung ist, aber ich kann mich sehr wohl dafür entscheiden, dieser Verliebtheit eine Chance zu geben. Ich entscheide mich, offen dafür zu sein. Ich entscheide mich, dass ich andere Verführungen des Lebens – andere Partner, andere Möglichkeiten, andere Jobs im Ausland vielleicht – nicht annehme, weil ich mich jetzt und hier für dich und für diese Liebe entschieden habe. Eine Entscheidung ist mehr als ein Ja-Sagen: Es ist ein Sich-Festlegen. Außerdem bedeutet Liebe auch, dass wir eine ähnliche Beziehungsvision haben: In welcher emotionalen Qualität wollen wir miteinander leben, haben wir ähnliche menschliche Werte? Aber Achtung: Sich für eine Beziehung zu entscheiden ist etwas anderes, als sich warum auch immer nicht trennen zu können.“

Das klingt vielleicht leichter, als es ist ...

„Sobald es längere Zeit ungesund wird, ist es keine Liebe. Wo immer wieder die Grenzen des anderen überschritten werden, ist keine Liebe. Respektlosigkeit und Achtlosigkeit verletzen die Liebe, verändern die Liebe oder lösen die Liebe auf. Und es gilt: Wenn es mir nicht guttut und ich trotzdem in dieser Beziehung bleibe, dann ist auch das keine Liebe, sondern eine Form von Verlustängsten oder Angst vor Einsamkeit.“

Wenn es mir nicht guttut und ich trotzdem in dieser Beziehung bleibe, dann ist auch das keine Liebe, sondern eine Form von Verlustängsten oder Angst vor Einsamkeit.

Kann ich das denn selber beurteilen, ob meine Liebe noch gesund ist? Erkenne ich das überhaupt?

„Ich würde es anders formulieren: Woran erkennt man, ob noch Liebe da ist? Vielleicht daran, dass man noch Sehnsucht spürt. Und da meine ich jetzt nicht körperliche, sexuelle Sehnsucht, sondern dass mir der andere fehlt, dass ich oft liebevoll an ihn denke. Und dann ist da noch die Frage: Was liebe ich denn an diesem Menschen? Oder liebe ich ‚nur‘ die Vision, die wir haben? Ist die Liebe nur auf die Zukunft gerichtet, oder findet sie hier und jetzt statt? Sagt man sich vielleicht ständig vor: ‚Jetzt ist es zwar schwierig, weil wir beide arbeiten. Aber wenn wir einmal in Pension und die Kinder groß sind, dann beginnt unsere Liebe, dann dürfen wir ...‘“

Apropos Kinder. Meine sind gerade recht pubertär. Da bin ich durchaus mit Respekt- und Achtlosigkeit konfrontiert, aber es schmälert die Liebe nicht.

„Da kann ich als Vater antworten: Die Liebe zwischen mir und meinen Kindern ist unzerstörbar und nie infrage zu stellen. Sie ist etwas, was da ist, wie die Sonne und der Mond, jeden Tag. So sollte eine gesunde Eltern-Kind-Liebe sein: ‚Ich liebe dich ohne Forderung, ohne Ansprüche.‘ Das ist ein inneres Band und die emotionale Gewissheit: Wir lieben einander, ohne Wenn und Aber.“

Bedingungslos.

„Allerdings gibt es viele Analytiker, die sagen: Es ist primär die Mutterliebe, die bedingungslos ist. Die Vaterliebe ist teilweise an – gesunde – Bedingungen geknüpft. Beides ist gut. Wenn wir es sehr archetypisch betrachten, sagt die mütterliche Liebe: ‚Ich liebe dich, weil du meine Tochter bist, also bedingungslos‘, während die väterliche Liebe sagt: ‚Ich liebe dich sowieso, weil du meine Tochter bist – aber ich liebe dich noch ein wenig mehr, weil du einen super Apfelstrudel gemacht hast.‘ – Kurz: Die Liebe des Vaters wird dadurch verstärkt, dass das Kind etwas Spezielles tut.”

Das ist ja durchaus entwicklungsfördernd.

„Absolut. Das braucht es auch. Stellen Sie sich vor, Eltern würden die Kinder nur bedingungslos lieben. Dann würden die den A... nicht hochkriegen.“

Gut, wir haben also die Liebe zum Partner, die Liebe zu den Kindern – was fehlt noch? Wie ist das mit der Liebe zu Freunden?

„Natürlich ist Freundschaft auch Liebe. Eine sehr wichtige sogar. Aber auf dem allerersten Platz steht die Selbstliebe. Denn wenn ich nicht die Fähigkeit in mir habe, mit mir selbst eine liebevolle Beziehung zu leben, kann ich das auch nicht nach außen tun.“

Es gibt dieses Bild, dass eine Liebesbeziehung wie die Brücke zwischen zwei Pfeilern ist. Ist einer der Pfeiler innen morsch, so wird die Brücke – egal wie fest ich sie zu bauen versuche – auch nicht halten.

„Absolut. Und Brücken baut man auch allermeistens von zwei Seiten. Das macht eine gesunde Beziehung aus. Erst muss es mir gutgehen, dann kann es mir mit einem anderen Menschen gutgehen – und es geht darum, sich in einer Beziehung ein-, aber nicht unterzuordnen. Jeder Mensch möchte in einer Beziehung gehalten werden, aber keiner möchte festgehalten werden. Das Wir darf das Ich nicht verschlucken.“

Jeder Mensch möchte in einer Beziehung gehalten werden, aber keiner möchte festgehalten werden.

Weil Sie so oft von gesunden Beziehungen sprechen: Liebe macht uns auch gesund, richtig?

„Ja. Wenn wir uns sicher und geborgen fühlen, haben wir weniger Stress. Wir alle wünschen uns anzukommen, ein emotionales Zuhause zu haben. Wir sehnen uns nach Kontinuität. Kontinuität gibt Sicherheit, gibt Tiefe, gibt Wärme.“

Also das ist, was die Liebe für mich tut. Und was ich für die Liebe tun kann, ist ...

„... mich für sie zu entscheiden! Den Mut zu haben für die Liebe. Und damit auch den Mut zu haben, verletzlich zu sein. Liebe heißt auch Schmerz. Das ist ein bisschen wie ein Deal: Wenn ich Ja sage zur Liebe, dann sage ich auch Ja zum Schmerz. Das muss uns schon bewusst sein, aber wir gewinnen auch unendlich viel. Denken Sie nur, wie viel Energie uns Liebe geben kann ... und wie sehr sie auf vielen Ebenen zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen kann. “

„Der Liebe leichte Schwingen trugen mich; kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren“, schreibt Shakespeare.

„Genau deshalb ist sie das Fundament oder, wenn man so will, das grundlegende Tool für ein gutes Leben.“

Nachgefragt bei: Herbert Antou, Psychotherapeut, Gutachter, Mediator, Analytiker sowie Paar- und Sexualtherapeut in Wien.