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„Singen? Lieber nicht.“ „Du willst gar nicht erst wissen, wie das bei mir klingt.“ „Ich bekomme immer nur ‚Poor‘-Wertungen bei ‚SingStar‘ ...“ Duncan Lorien schmunzelt. Sätze wie diese kennt er nur zu gut. Vor allem diesen einen, den er für toxisch hält: „Ich kann nicht singen. Mir hat schon mein Musiklehrer gesagt, dass ich unmusikalisch bin!“ Ah ja. Unmusikalisch. Ein Konzept, mit dem der Gesangspädagoge nicht viel anfangen kann. Dabei ist eines ganz sicher klar – Singen macht Spaß!

„Ich habe 20.000 Menschen unterrichtet. Gemäß statistischer Wahrscheinlichkeit muss ich also mindestens eine Person getroffen haben, die unmusikalisch ist und nicht singen kann ... Es war aber nie eine dabei! Nicht eine einzige. Allerdings habe ich Hunderte von Menschen getroffen, denen gesagt wurde, dass sie nicht singen können. Da waren fast immer falsche Glaubenssätze im Spiel, die über viele Jahre hinweg angehäuft wurden. Das ganze Konzept, dass jemand angeblich unmusikalisch ist, halte ich für ein Fantasiekonstrukt.“

Das ganze Konzept, dass jemand angeblich unmusikalisch ist, halte ich für ein Fantasiekonstrukt.

Duncan Lorien
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Das beginnt schon damit, dass Musik Abmachungssache ist und unsere Vorstellungen von Wohlklang der Mode, der Region und dem jeweiligen Zeitalter unterworfen sind. Lieblingsbeispiel: der Kammerton a. Laut internationaler Übereinkunft schwingt er mit 440 Hertz (Schwingungen pro Sekunde). Was wir hören, sind genau diese Schwingungen, die sich in der Luft und letztlich via Trommelfell in unserem Körper fortsetzen. Einen Ton bezeichnen wir somit dann als „a“, wenn er die abgemachte Frequenz aufweist. Alles klar?

Mitnichten. Denn die internationale Übereinkunft, die es ermöglichen soll, dass Musiker weltweit miteinander spielen können, existiert erst seit 1960. Davor herrschte regelrechter a-Wildwuchs. Und auch 1960 konnte dieser nur punktuell eingedämmt werden. Die Berliner Philharmoniker spielten unter Herbert von Karajan ihr a auch danach noch mit 446 Hertz. Das New York Philharmonic Orchestra verwendet 441,5 Hertz. Orchester in Moskau stimmen vorwiegend ein a mit 435 Hertz an. So viel zum Konzept „perfekte“ oder „absolut richtige“ Tonhöhe.

Meister Bach rotiert im Grab

Ach ja: Die Orgeln, auf denen Johann Sebastian Bach seine Werke komponierte, waren auf ein a mit 480 Hertz gestimmt. Wer heute Bach spielt, spielt ihn also schlichtweg „falsch“ – und hat Glück, dass der Meister selig es nicht mehr hören kann. Es gibt also keine absolute Tonhöhe und daher auch kein „absolut richtig“, kein „absolut falsch“ und schon gar kein mystisches „absolutes Gehör“. „Was wir als absolutes Gehör bezeichnen, ist nichts anderes als ein gutes Gedächtnis für die aktuelle gesellschaftliche Übereinkunft zur Tonhöhe“, erklärt Duncan Lorien. Daraus folgt auch das genaue Gegenteil: Als unmusikalisch gilt, wer nicht mit der Art und Weise übereinstimmt, wie sich die Mehrheit Musik vorstellt. Du singst nicht falsch – du bist ein Tonhöhen-Revoluzzer!

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Was wir als absolutes Gehör bezeichnen, ist nichts anderes als ein gutes Gedächtnis für die aktuelle gesellschaftliche Übereinkunft zur Tonhöhe

Duncan Lorien

So macht Singen garantiert Spaß: Selbstgespräche in der Dusche

Passionierte Duschkabinensänger sollten nun tatsächlich alle Hemmungen verlieren: Sie müssen sich an keine Übereinkunft halten, der Duschkopf wird nicht über sie urteilen, und wegen des Halls klingt es im Bad ohnedies am besten. Paul McCartney nahm seine ersten Songs deshalb immer am Klo auf. Problematisch wird es erst dort, wo Revoluzzer auf Mehrheitsgesellschaft trifft. Und das ist früher oder später der Fall. „Gesang ist die universellste Sprache der Welt. Niemand lernt eine Sprache, nur um Selbstgespräche zu führen. Gesang ist Kommunikation. Und welchen Sinn hätte eine universelle Sprache, wenn sie bestimmten Menschen verschlossen ist?“, so Lorien. Ist jemand (angeblich) „unmusikalisch“, muss man ihn oder sie eben langsam wieder in Übereinstimmung mit den musikalischen Konventionen bringen. Beginnend mit dem kleinstmöglichen Kompromiss.

Reproduziertes Grunzen

Der kleinstmögliche Kompromiss ist nicht der Kammerton a. Oder ein C-Dur-Akkord. Der kleinstmögliche Kompromiss ist die Reproduzierbarkeit von Tönen. Das Bewusstsein, dass ich weiß, wie der Ton klingen wird, der aus meinem Mund kommt – das gibt Sicherheit. Dabei ist es tatsächlich egal, wie „falsch“ mein Ton klingt. Hauptsache, er klingt jedes Mal auf dieselbe Art falsch. „Okay, du kannst nicht singen“, sagt Lorien. „Kannst du grunzen? Gut. Kannst du zweimal auf exakt die gleiche Art grunzen? Perfekt. Dann sind wir im Geschäft ...“ Und haben nebenbei das erste Intervall gemeistert: die Prim.

Kannst du grunzen? Gut. Kannst du zweimal auf exakt die gleiche Art grunzen? Perfekt. Dann sind wir im Geschäft ...

Duncan Lorien

Niemand wird als Pavarotti oder Sia geboren. (Außer Pavarotti und Sia.) Alle anderen müssen sich vorsichtig herantasten. Dennoch: Lernen kann’s jeder und Singen macht so viel Spaß. Es gibt also keine Ausreden: Sing!