In Partnerschaft mit

Die diplomierte Physiotherapeutin Veronika Winter hat uns im Interview die wichtigsten Fragen zum Thema beantwortet.

Wie entstehen Haltungsschäden bei Kindern und warum?
„Für erworbene Haltungsschäden gibt es meist nicht nur eine Ursache. Sie entstehen oft durch einseitige Belastung oder Bewegungsmangel und können bereits im Säuglingsalter beginnen. Babys werden oft zu früh und oft viel zu lange in Sitzschalen, Tragetücher oder Wippen gepackt. Das schadet der Wirbelsäule. Ab dem Säuglingsalter, und schon davor im Mutterbauch, müssen die Muskeln trainiert werden, um später den Körper aufrecht gegen die Schwerkraft durchs Leben tragen zu können. Unsere ‚Haltemuskulatur‘ besteht aus circa 250 Muskeln. Sie ist verantwortlich für eine gesunde Haltung. Von Nichts kommt Nichts. Also: bewegen, bewegen, bewegen!

Für Haltungsschäden gibt es meist nicht nur eine Ursache. Sie entstehen oft durch einseitige Belastung oder Bewegungsmangel und können bereits im Säuglingsalter beginnen.

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Babys trainieren ganz von alleine. Wir dürfen sie nur nicht daran hindern, oder sie behindern. Je bewegungserfahrener Babys und Kinder sind, desto besser und gesünder ist es für ihre Haltung, aber auch für die Konzentration und für spätere feinmotorische Tätigkeiten, wie das Schreiben.“

In welchen Altersstufen muss man besonders aufpassen?
„18 Jahre lang wächst unser Körper. Im Laufe dieser Zeit gibt es Wachstumsschübe, die zu muskulären Disbalancen und vorübergehenden Haltungsschwächen führen. Diese wachsen sich in den meisten Fällen von alleine aus. Dauert eine Haltungsschwäche an, oder geht über den gesunden Rahmen hinaus, muss ärztlich abgeklärt werden.

Wachstumsschübe führen vorübergehenden Haltungsschwächen. Diese wachsen sich in den meisten Fällen von alleine aus.

Kinder ab dem Grundschulalter verbringen leider viel zu viel Zeit auf Sessel sitzend. Nicht nur in der Schule, auch zu Hause. Vor den Hausübungen, vor dem Fernseher, mit dem Tablet, oder Handy. Die Kombination aus unergonomischem Sitzen und Bewegungsmangel führt oft dazu, dass sich eine Haltungsschwäche nicht von alleine auswächst. Sie wird zum Haltungsfehler. Leider entstehen so in der Kindheit bleibende Haltungsschäden.

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Die Kombination aus unergonomischem Sitzen und Bewegungsmangel führt oft dazu, dass sich eine Haltungsschwäche nicht von alleine auswächst.

Die Pubertät stellt nochmal einen ‚Turning point‘ auf vielen Ebenen dar. Der Körper wächst in Schüben in die Länge. Die Muskeln kommen nicht nach. Sie können diese Länge noch nicht ausreichend stabilisieren. So kommt es in diesem Alter vermehrt zu Haltungsschwächen. Im Sport erfahren Teenager oft Leistungseinbrüche und sind frustriert. Dranbleiben ist gefragt! Auch hier gilt: Eine Haltungsschwäche hat einen Rahmen innerhalb dessen sie sich von alleine auswachsen kann und wird. Sie ist nur vorübergehend.“

Wie viel Bewegung ist bei Kindern in diesem Zusammenhang nötig? Wie kann man vorbeugen?
„Auf alle Fälle tägliches Bewegen, am besten in den Alltag integriert. Zu Fuß gehen, Stufen steigen, im Garten oder auf dem Spielplatz herumtollen. So lernen Kinder früh, dass Bewegung nicht unbedingt Fitness, Sport und Leistung bedeuten muss. Meine Kinder spielen mit Freunden im Hof Fangen oder Verstecken, fahren Roller oder Skateboard. Sie sind einfach natürlich in Bewegung.

Durch tägliches Bewegen kann man Haltungsschäden vorbeugen.

Eltern haben hier auch eine große Vorbildwirkung. Es gilt die eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen und den inneren Schweinehund zu überwinden. Ich zum Beispiel jongliere mit den Kindern oder tanze mit meiner Tochter eine Runde zu einem coolen Song. Wir haben auch eine Reckstange und einen Boxsack in der Wohnung – also Möglichkeiten, rasch in Bewegung zu kommen.“

Eltern haben hier auch eine große Vorbildwirkung.

Soll man Kinder in Sportkurse schicken?
„Es gibt einen Trend: Kinder werden immer früher zu ‚Bewegungskonsumenten‘. Sie werden schon als Säuglinge animiert, bespielt, gefördert und in diverse Kurse geschleppt. So wird Bewegung zu einem Termin, einer Verpflichtung, einer Leistung. Das ist nicht kindgerecht.

Kinder werden immer früher zu ‚Bewegungskonsumenten‘.

Es geht anfangs nicht darum, wie viel Bewegung nötig ist, sondern darum, wie Bewegung stattfindet! Mit Druck, unter Vorgaben und Beschränkungen – oder mit Freude und aus sich heraus. Kinder bewegen sich andauernd. Sie drücken ihre Gefühle über Bewegung aus. Haben Sie schon einmal ein fröhliches oder trotziges Kind erlebt? Dann wissen Sie, was ich meine. Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang, außer er wurde ihnen aberzogen, weil es stört, wenn sie herumlaufen, springen und tanzen.
Kinder müssen nicht mit vier Jahren Golf spielen und mit fünf Tennis. Das entspricht nicht ihrer Entwicklung. Altersgerechtes Bewegen heißt das individuelle Bewegungspotential, das gerade da ist, mit Freude voll ausschöpfen – aus sich heraus.“

Altersgerechtes Bewegen heißt das individuelle Bewegungspotential, das gerade da ist, mit Freude voll ausschöpfen – aus sich heraus.

Gibt es tägliche Bewegungen, die Kinder erlernen sollten?
„Herumtoben, tanzen, jonglieren, in einer Hängematte schaukeln, an einer Reckstange hängen … Um die Stützmotorik zu trainieren, die wesentlich für eine gesunde Haltung ist, muss der ganze Körper im Einsatz sein. Ausgleichsbewegungen sind wichtig. Raus aus der einseitigen Belastung. Das gilt übrigens auch für Erwachsene mit sitzenden Berufen.

Ausgleichsbewegungen sind wichtig. Raus aus der einseitigen Belastung.

Im Schulalter ist es besonders wichtig, immer wieder aus dem Sitzen herauszukommen. Viele Pädagogen machen während des Unterrichts Bewegungspausen, das ist ideal – nicht nur für die Haltung, auch für die Konzentration. Jede Bewegung trainiert nämlich das Gehirn.

Jede Bewegung trainiert das Gehirn.

Ich bitte meine Tochter oft, sich zum Lesen auf den Bauch zu legen oder zum Telefonieren auf den Rücken. Das sind einfache Tipps für den Alltag, die aber circa eine Stunde weniger Sitzen pro Tag ausmachen. Falls es möglich ist, sollen Kinder auch selbständig in die Schule gehen – eine gute Möglichkeit, Bewegung in den Alltag zu bringen.“

Ich bitte meine Tochter oft, sich zum Lesen auf den Bauch zu legen oder zum Telefonieren auf den Rücken. Das sind einfache Tipps für den Alltag.

Wann sollte man Haltung/Stützapparat ärztlich kontrollieren lassen?
Welche unbedingten Maßnahmen sollten Eltern ergreifen?

„Teilweise werden frühe Haltungsschäden durch den MUKI-Pass und die Kontrolltermine beim Kinderarzt erkannt. Auch im Kindergarten und in der Schule gibt es Standard-Screenings.

Im Laufe der Entwicklung gibt es vorübergehende Fehlhaltungen. Das Hormonsystem, die Muskeln, die Knochen, das Gehirn, das Herz-Kreislauf-System, die gesamte Biomechanik ist im permanenten Wandel. Bis zum 18. Lebensjahr wächst und entwickelt sich der Körper. Während dieses Wachstums gibt es bestimmte Deadlines. Bis dahin hat der Körper Zeit, sich von alleine auszuwachsen.

• Knickfüße, Plattfüße
• Hohlkreuz
• O-Beine, X-Beine

Der physiologische Knickfuß sollte sich zum Beispiel zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr in ein gesundes Fußgewölbe entwickelt haben. Ein ‚Hohlkreuz‘ muss sich während des Zahnwechsels im Grundschulalter zurückbilden, die Wirbelsäule kommt in dieser Zeit in ihre typische und ideale S-Form."

Richtige Haltung Kinder

Foto Credit: Toa Heftiba

Worauf muss man bei der Wahl des Sports achten?
„Die kindliche Motorik entwickelt sich von grob zu fein, von unkoordiniert zu koordiniert. Zuerst kommen alle basismotorischen Fähigkeiten, wie Drehen, Krabbeln, Greifen, Stehen, Gehen (mit 18 Monaten). Dann folgt Hüpfen (mit ca. 2,5 Jahren). Es ist also klar, dass Entwicklung ihre Zeit braucht. Sport mit drei Jahren ist Utopie. Vielseitiges Bewegen ist in diesem Alter viel lustiger und kindgerechter.

Sport mit drei Jahren ist Utopie. Vielseitiges Bewegen ist in diesem Alter viel lustiger und kindgerechter.

Am besten wählt man zum Einstieg mit circa fünf Jahren einen Sport oder Kurs aus, bei dem Vielseitigkeit geübt wird. Also eine gute Mischung aus Kraft, Ausdauer, Koordination, Schnellkraft, Gleichgewicht und vor allem Spaß. Bevor dann zum Beispiel gezielt Tennis gespielt wird, müssen Kinder durch Bewegungsspiele erst einmal ein Ballgefühl entwickeln. Dasselbe gilt für alle anderen Sportarten.

Am besten wählt man zum Einstieg mit ca. fünf Jahren einen Sport oder Kurs aus, bei dem Vielseitigkeit geübt wird.

Das Thema Sport, im Sinne der sportmotorischen Lernfähigkeit und Leistung, wird im Grundschulalter interessant. Kinder sind in diesem Alter besonders lernfähig und „geschickt“. Bringen sie auch noch ein großes Bewegungspotential mit, sowie die Bereitschaft, sich anzustrengen, ist das eine geniale Mischung. Darauf lässt sich gut aufbauen.“

Worauf soll man beim Kauf der Schultasche achten?
„Hier braucht es viele Verstellmöglichkeiten, um die Schultasche an die individuelle Konstitution des Kindes anzupassen. Genauso wichtig ist wenig Eigengewicht. Brust und Bauchgurt zum körpernahen Fixieren, Schulterverstärkung, damit die Träger nicht einschneiden. Ein Tipp: Trinkflaschen erst in der Schule auffüllen. Auch Kleinvieh macht Mist. Alles raus, was nicht drinnen sein muss. Also das riesige Federpennal, wenn möglich, im Bankfach in der Schule lassen.“

Ein Tipp Trinkflaschen erst in der Schule auffüllen!

Aktuelle Termine mit Veronika Winter

Yoga Anatomie KIDS
25./26.4. bei littleyogi- Wien

Anatomie KIDS
23.5. Praxis 2balance, Wien

Info unter www.2balance.at/seminare
Onlinekurs Anatomie Basics
Tipps von Veronika Winter Youtubekanal von 2balance
Newsletter mit vielen extra Infos und Übungen

  • Buchtipps von Veronika Winter
  • Renate Zimmer: „Sport und Spiel im Kindergarten“
  • Renate Zimmer: „Handbuch der Sinneswahrnehmung“
  • Dr. Christian Larsen: „Starker Rücken, starkes Kind“