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Weil die Lebensweggefährtin keine Lust auf Askese hat, wird plötzlich ein Platz frei bei den Shaolin-Mönchen im „Happy Buddhist Retreat“. Also packt carpe diem-Autor Michael Holzer schwarze Hosen, Optimismus und Forscherdrang ein. Destination: Tempel. Auftrag: Klarheit finden.

770 Kilometer, 7 Stunden, 7 Minuten, Routenplanung im Einklang: In Zeiten des überschaubaren Bewegungsradius ist eine lange Autofahrt der Langstreckenflug des kleinen Mannes. Warum ich die lockdownfreie Zeit ausgerechnet dafür nütze, um für sechs Tage in ein Kloster der Shaolin-Mönche zu gehen, hat mit einer Kettenreaktion an Befindlichkeiten zu tun. „Askese passt mir grad nicht rein. Willst du fahren?“, fragte meine Lebensweggefährtin. „Okay“, antwortete ich und übernahm ihren Platz im „Happy Buddhist Retreat“.

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Der happy Buddhist von Welt, so steht’s in den Teilnahmebedingungen, entsagt im Tempel Drogen aller Art (oder er fliegt raus!), trägt Schwarz und gelobt Zucht und Ordnung. Ist nur für eine Woche, denke ich, stopfe den Großeinkauf schwarzer Baumwolltextilien samt Etiketten in einen Expeditionsrucksack und breche auf. Auf der Fahrt zum Shaolin Temple Europe in Otterberg bei Kaiserslautern kommt mir die Frage, die ich mir sonst nur vor dem Einschlafen stelle: Was läuft gut in meinem Leben?

Nun: Es gab Zeiten, da war die Liste meiner Antworten darauf deprimierend kurz. Und das Gute am Schlechten war, dass ich mich früh auf die Suche machte. Es ist eine Inselbegeisterung mit Forscherdrang, die mich beruflich und privat umtreibt: Ich will verstehen, warum wir Menschen ticken, wie wir ticken – ich im Speziellen. Ausbildungen, Seminare, Workshops, Trainings, Retreats, Masterclasses, Vorträge, Bücher, Podcasts, Studien: Tausende Stunden habe ich mir soliden Stoff seriöser Seelenversteher und schräges Zeug kauziger Gurus reingezogen.

Andere fahren zu den Salzburger Festspielen oder sammeln Rotweinflaschen, ich sammle Selbsterfahrungen. Bloßfüßig über glühende Kohlen und auf vereiste Berge gehen, erwachsen meine zähe Geburt nachstellen, ich habe mich auch schon probeweise erdbestatten lassen, man will sich ja vorbereiten. Und was soll das alles bringen?! Sagen wir so: Irgendetwas Unnützes lasse ich fast immer zurück. Und irgendetwas Sinnvolles nehme ich fast immer mit. Um Buddha zu zitieren: Es ist besser, hoffnungsvoll zu reisen, als anzukommen.

Jetzt bin ich erst mal da. Das buddhistische Kloster der Shaolin-Mönche in Otterberg tritt sympathisch schlicht auf. Ein altes Gehöft mitten im Wald, frei von sakralem Prunk und touristischem Chichi. Buddhisten sind bekanntlich Menschen mit Distanzgefühl: Das Empfangskomitee verneigt sich im Abstand eines Autobusses, für Aerosole viel zu weit. Das Ansteckende im farbenfrohen Mikrokosmos fernöstlicher Tradition ist diese Ruhe. Sie geht nicht nur von fröhlichen Buddha-Büsten aus, sondern von allen Menschen, Pferden, Hunden, Katzen, die hier leben – von „allen Wesen“, wie wir noch öfter beten werden.

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Auf uns Neuankömmlinge wirkt diese Enklave der Entschleunigung wie ein Bremsfallschirm. Als wäre der Drache am Klostertor ein Türsteher, der die Neurosen unserer Zeit nicht einlässt. Mit mir sind hier: ein englischer Anwalt und eine Amerikanerin mit niederbayerischem Dialekt (Anfang dreißig). Ein bosnisches Ehepaar (etwa vierzig). Ich, fünfzig plus. Mehr Schüler sind wir nicht. Alter spielt nur insofern eine Rolle, als es ein klösterliches Ordnungsprinzip ist: Abt, Meister, Mönche, Novizen; dann Gäste nach Alter, absteigend.

In der Gästeklasse bin ich somit per Dekret Erster am Buffet, auch nicht schlecht ... Mist: Schreibzeug vergessen! Aber die Shaolin-Mönche haben Verständnis, mir wird mit einem Büchlein aus handgeschöpftem Papier geholfen. Das nehme ich gleich als Shaolin-Tagebuch. Die Buddhisten kennen ihre vier edlen Wahrheiten – ich möchte hier vier echte Klarheiten finden.

Die Suche nach Glück macht glücklich

Vormittags und nachmittags machen wir Stoff. Es geht um große Fragen: Was braucht ein gutes Leben? Was ist Glück? Im „Happy Buddhist Retreat“ liefern zwei ungleiche (Kloster-)Brüder Antworten aus ihren Lehren. Shi Heng Zong, stattlich-gemütlicher Deutscher und Abt des Kloster der Shaolin-Mönche, dröselt für uns Prinzipien und Philosophie des Buddhismus auf. Dr. Randall Birnberg ist Vertreter der Positiven Psychologie, forscht an der Erasmus-Universität in Rotterdam und liefert den Stand der Wissenschaft. Beide sind Freunde, große Geschichtenerzähler und haben es gern lustig miteinander.

Shaolin Meditation
Mann in Meditationspose

Foto: Gregor Kuntscher

Das Beste beider Welten ist hier vereint: Die beliebte Weltreligion hat für die irdische Reise vom Gfrett zum Glück den sogenannten edlen achtfachen Pfad als Navigationssystem erfunden. Wer nach den Regeln zur Erlangung von Weisheit, Sittlichkeit und Geistesschulung lebt, so die Theorie, kommt irgendwann im Nirwana an. Erleuchtung klingt super, mag in meinem Fall aber noch dauern – noch reise ich hoffnungsvoll. Die Positive Psychologie hilft als Wegweiser. Dazu nützt sie das sogenannte PERMA-Modell des US-Wissenschaftlers Martin Seligman: Positive Emotionen, Engagement, Relationships (gute Beziehungen), Meaning (Sinn im Leben) und Achievement (also das Gefühl von Selbstwirksamkeit, weil wir Ziele erreichen) sind die Indikatoren unseres Lebensglücks.

Wenn das läuft, läuft alles! Es läuft nur nicht immer ganz von selbst in die richtige Richtung ... Und hier kommt der Begriff ins Spiel, der sich beim Aussprechen oft anfühlt wie Dinkelmehl gegen den Durst: Eigenverantwortung. Formulieren wir es anders: Das Einzige, was wir in diesem Leben wirklich jemals in den Griff bekommen können, sind wir selbst. Und es macht doch Laune, das zu üben – oder nicht?

Shaolin-Weisheit: Es lohnt sich zu kämpfen, um nicht zu kämpfen

Im Morgengrauen schon wirbelt er beim Kung-Fu als menschliche Silhouette über den Kiesplatz vor dem Tempel. Geschmeidig, fast lautlos. Shi Heng Yi hat in Deutschland zwei Uni-Abschlüsse, seinen Weg zur Meisterschaft geht er seit seinem vierten Lebensjahr. Shi ist Shaolin-Meister (Sifu) der 35. Generation in der 1.500-jährigen Tradition des Ordens, Kampfmönch und der vielleicht egobefreiteste You-Tuber weltweit. Einer von den Echten: An seinem Körper zersplittern Holzstangen, ohne dass er dabei auch nur blinzelt. Dass er mental so anders drauf ist als unsereins, ist weder Glück noch Zufall noch Talent.

Es ist die Konsequenz täglicher harter Arbeit an sich selbst über Jahrzehnte. „Alles im Leben hat zwei Seiten: Bei uns Menschen sind das Geist und Körper. Beides können wir formen. Den Geist über Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus. Den Körper über Kung-Fu, Qigong, Tai-Chi und Meditation“, führt er aus. Prompt verheddern sich meine Gedanken in einer albernen Kopfrechnung. Ich dividiere 1.500 (Jahre Shaolin-Geschichte) durch 35 (Generationen) und komme auf 42 Komma etwas. Kann das sein? Ist das die durchschnittliche Lebenserwartung? So wenig? Sind die alten Chinesen früher so jung gestorben?

Auf dem Weg zur Erkenntnis gibt es zwei Fehler erstens, ihn nicht zu beginnen, zweitens, ihn nicht zu Ende zugehen.

Shi Heng Yi, Abt des Shaolin-Klosters

Unsinn natürlich, das läuft ganz anders. Aber derlei Abdriften ist der Klassiker und irgendwie das Drama dieser Welt: Das Hier und Jetzt ist ein Stecknadelkopf, von dem die Aufmerksamkeit ständig runterrutscht. Wir sind überall mit unseren Gedanken, nur nicht da, wo das Leben ist: im Augenblick. Hier im Kloster der Shaolin-Mönche, sagt Shi, gehe es darum, sich immer wieder auf diesen Augenblick zu zentrieren, also auf dem Stecknadelkopf stehen zu lernen. Shi Heng Yi haut Sätze raus wie: „Auf dem Weg zur Erkenntnis gibt es zwei Fehler: erstens, ihn nicht zu beginnen, zweitens, ihn nicht zu Ende zu gehen.“

Auch die Frage, warum es unter friedfertigen Buddhisten Kampfmaschinen wie ihn brauche, beantwortet er in der Weisheit des Meisters: „Was ist Sinn des Kampfes? Ganz einfach: Kampfkunst ist nur ein Instrument, um viel über sich und das Leben zu erfahren. Der härteste Kampf, der aber das Herausragendste aus uns hervorbringt, ist immer der Kampf mit uns selbst. Dafür trainieren wir, dafür meditieren wir: um diesen Kampf in uns mit uns zu gewinnen – und jenen mit anderen zu vermeiden.“

Was will man darauf sagen? Kämpfen für den inneren Frieden, um nicht mehr kämpfen zu müssen – das ist schon ziemlich genial. Shi Heng Yi gibt uns noch mit: „Bedenkt: Der Meister zeigt den Weg, aber der Schüler geht ihn.“

Der Meister zeigt den Weg, aber der Schüler geht ihn.

Shi Heng Yi, Abt des Shaolin-Klosters

Der größte Zen-Meister ist der Alltag

Der größte Zen-Meister ist der ganz normale Alltag des Shanga, wie die Klostergemeinschaft heißt. Zwischen 6-Uhr-Aufstehen und 22-Uhr-Licht-Abdrehen spannt sich die immer gleiche Abfolge an Ritualen durch jeden einzelnen Tag – wie die Leine mit den Gebetsfahnen vor dem Tempel. Wir beginnen täglich mit Qigong. Dann Frühstück, Unterricht, Tischgebet, Mittagessen, Pause, Unterricht, Stille-Spaziergang, Unterricht, Tischgebet, Abendessen, Qigong, buddhistische Abendzeremonie im Allerheiligsten, Schlafen.

Die Tage fühlen sich zwar angenehm voll an, trotzdem bleibt dauernd Zeit übrig. Um sich über die Atmung neu zu zentrieren, Gedankenschleifen zu stoppen, um leer zu werden und, wie die Buddhisten es nennen, weniger anzuhaften.

Das haut gut hin: Die üblichen Alltagserregungen werden einem ein bissl mehr wurscht; nein: Sie fallen einem hier gar nicht ein. Notiz an mich: Wenn man mit dem Wort Struktur keinen Wickel anfängt, schenkt sie einem Freiheit und schafft Ordnung im Kopf. Nach zwei Tagen hat selbst der junge Anwalt seinen Rechner runtergefahren und setzt bei jeder Gelegenheit die Schlafbrille auf, um zu meditieren. Den Grundrhythmus aus Tun und Ruhen, aus Bewegung und Entspannung will ich aus dem Retreat unbedingt mitnehmen.

Quigong-Position
Mann auf einem Bein mit gefalteten Händen vor der Brust

Foto: Gregor Kuntscher

Fragen sind die besseren Antworten

Randall Birnberg teilt immer mal wieder psychologische Fragebögen aus. Motto: Je mehr Daten, umso mehr Glück in der Forschung. In mir hat er dabei ein dankbares Gegenüber: Ich mache jeden Psychotest im Internet mit, für mich wie Sudoku für die Seele. Fragen sind sowieso oft die besseren Antworten. Randall hat im Übrigen auch nicht als Gelehrter angefangen, sondern als Sohn einer Mafia-Familie in Chicago, wie auch seinem Buch „Ekelhaft gut gelaunt“ zu entnehmen ist.

Plötzlich fragt er mich: „Wie viele Menschen hast du in deinem Leben, die du um drei Uhr morgens anrufen kannst?“ Um etwas Zeit zu gewinnen, antworte ich: „Nüchtern ...?“ Dann sage ich: „Neun!“ Sechs fallen mir spontan ein, für drei bräuchte ich mein Handy, das mit totem Akku seit einer Woche im Auto liegt. „Wow, gut“, lobt er. Ja, das finde ich auch. Kommt auf die Liste mit Dingen, die in meinem Leben gut laufen. Am Ende schenken uns die Meister je dreißig Minuten Gesprächszeit.

Die Wahrheit ist die Wahrheit, wenn sie nicht wehtut – wenn sie zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, in der richtigen Art und Weise gesagt wird.

Shi Heng Yi, Abt des Shaolin-Klosters

Viel ist gar nicht offen geblieben. Abt Shi Heng Zong verdanke ich den Satz „Die Wahrheit ist die Wahrheit, wenn sie nicht wehtut – wenn sie zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, in der richtigen Art und Weise gesagt wird.“ Autsch! Dreimal unterstrichen! Das übe ich gleich. Und spare mir die Frage, warum die „Süddeutsche“ vor zehn Jahren seinen Titel als Shaolin-Abt in Zweifel gezogen hatte. Was hätte ich denn hier und jetzt von der Antwort? Nichts, eben. Stattdessen will ich wissen, ob er lieber bei Managementtrainings oder hier im Kloster arbeite. Seine Antwort: „Dort, wo ich bin, arbeite ich am liebsten.“

Meister Shi Heng Yi frage ich nach dem mittleren Weg. „Nicht das eine Extrem, nicht das andere, auch nicht der Weg genau mittendurch. Der mittlere Weg ist, Extreme zu integrieren und in Balance zu bringen.“ Gefällt mir. Auch dass sich unter den spärlichen Besitztümern des Mönchs eine vier Jahre lang selber zusammengeschraubte Ducati Monster S4RS befindet, gefällt mir.

Meine letzte Frage, ehe ich das Shaolin-Tagebuch zuklappe, geht an Randall: Was macht einen glücklichen Menschen aus? Die Antwort: neben allen Kriterien der Positiven Psychologie die Fähigkeit, den eigenen Lebensweg im Nachhinein als sinnerfüllt zu beurteilen. „Positive Reminiszenz. Die Brücke durch das Jetzt in die Zukunft.“

Die nehme ich gleich. Was lasse ich diesmal Unnützes los? Die Zeitverschwendung, mir zu erklären, warum ich zu wenig Zeit habe. Was kommt Neues dazu? Dass ein guter Tag mit Qigong anfängt. Und was nehme ich Sinnvolles mit auf meine Reise? Ein Buch voller positiver Reminiszenzen aus nur einer Woche.

Heimfahrt. 770 Kilometer, aber 8 Stunden, 11 Minuten. Stau wird überbewertet. Es ist sowieso besser, hoffnungsvoll zu reisen, als anzukommen.

Michael Holzer, 53, ist Berater, Coach, Autor und zweifacher Vater. Beruf, Berufung und Begeisterung vereint er beim „Momentesammeln“ in der Selbsterfahrung.