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Anmerkung: Unsere „Kettenbrief-Saga“ ist eine Fortsetzungsgeschichte, bei der jeder Autor/jede Autorin eine Geschichten-Etappe übernimmt. Es handelt sich um ein kleines literarisches Experiment; den jeweiligen Verfassern wurden keine Vorgaben in Hinblick auf Form, Länge oder Inhalt gemacht.

Wir hegen dennoch die stille Hoffnung, dass am Ende ein stimmiger Handlungsbogen entsteht, das Gute siegt und dramaturgische Irrwege wohlgefällige Auflösungen finden. Garantie gibt es dafür natürlich keine …

In diesem Sinne: Gutes Gelingen – Film ab!

Sie war etwa halb so groß wie ein Vanillekipferl, aber doppelt so stark gebogen. Jeder andere hätte sie übersehen, wäre wohl abgelenkt worden durch den bunten Wildwuchs an Büchern in Emilys Bibliothek. Aber Len war nun einmal nicht jeder andere. Er war ein Mann mit einer Mission, möglicherweise einer hoffnungslosen, vielleicht auch einer völlig unerklärlichen, aber einer Mission nichtsdestoweniger. Und er würde nicht eher ablassen, bis er die kleine Schachtel in Händen hielt.

Aber Len war nun einmal nicht jeder andere. Er war ein Mann mit einer Mission.

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Siebzehnte Reihe, hatte Emily gesagt, hinter den Seekarten aus dem 17. Jahrhundert – und gleich neben „17 Lasagne-Rezepte, mit denen Sie Ihren Schornsteinfeger verführen“. Len hatte Emilys Faszination für die Zahl 17 nie verstanden. Auch nicht ihre Faszination für Schornsteinfeger. Ausgerechnet Schornsteinfeger! Es versetzte ihm immer noch einen schmerzhaften Stich, wo er doch … Nein, nicht jetzt. Energisch schüttelte Len den Gedanken ab. Dies war nicht der Zeitpunkt, um nachtragend zu sein. Wo war die Schachtel? Klein, türkis, krumm sah er sie hinter den Seekarten aufblitzen. Jetzt bloß keinen Fehler machen …

von NICOLE KOLISCH

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Und wie immer, wenn Len die Sorge packte, nur ja nix zu verpatzen, machten es sich die Dämonen in ihren Hängematten gemütlich, ließen eine allerfeinste Magnum-Flasche Rotwein im Kreis wandern, füllten sich grunzend die Gläser und freuten sich auf ihre Inszenierung.

Len wusste das, und er hatte schon so viel versucht, mit den Dämonen Frieden zu schließen. Er hatte Rat bei Freunden gesucht, Therapien und Familienaufstellungen absolviert, Obskuranten und Schamanen konsultiert – vergeblich.

‚Oh, eine alte Schachtel‘, sagte er laut und musste schmunzeln.

Es schien, als wären die Begriffe Falle & Fettnapf eigens für ihn erdacht worden. Falle & Fettnapf, Lens persönliches FF. Und dennoch streckte er seine Hand nach der Schachtel aus. „Oh, eine alte Schachtel“, sagte er laut und musste schmunzeln. In der Annahme, es sei ein famoser Gedanke.

In Wahrheit handelte es sich jedoch lediglich um eine Ablenkung, die ihm das Unbewusste schenkte, um den bedeutenden Zugriff noch etwas hinauszuschieben. Diesen Augenblick des kurzen Zögerns nutzten die Dämonen, erhoben die Gläser und lallten „Zum Wohl, Jan! Auf dich und den Schornsteinfeger.“

von MICHAEL HUFNAGL

Nun fragt sich der geneigte Leser vielleicht, warum diese eigenartigen Dämonen, grunzend und mit Rotem abgefüllt bis in die Pelzspitzen, Len jetzt auch noch demütigen mussten. Jan hatten sie ihn genannt! Warum? Weil’s egal ist, wie er heißt? Weil er eh nur ein armes FF-Würschtel ist, das man alles heißen kann? Hmmmm ... Oder hatte es einen anderen Grund?

Dann zerriss ein heftiges Niesen die Stille in der Bibliothek.

Len aka Jan jedenfalls ließ sich durch diese kleine Perfidie nicht beirren. Da mussten die dämlichen Dämonen schon früher aufstehen. Entschlossen schob er die Seekarten zur Seite, ebenso entschlossen ignorierte er den Bildband mit den 17 schönsten Schornsteinfegern des letzten Jahrzehnts. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen und ganz tief in das Bücherregal eintauchen, damit seine Finger endlich die winzige Schachtel erreichen konnten. Ja, er hatte es beinahe geschafft … Und dann zerriss ein heftiges Niesen die Stille in der Bibliothek.

von GUNDI BITTERMANN

„Entschuldigung“, sagte Len aka Jan. Und auch das sagte er scheinbar ein klein wenig zu laut, denn die Damen und Herren rings um ihn quittierten das „Entschuldigung“ mit einem entschlossenen „Psssst!“

„Rutscht mir doch alle den Buckel runter“, murmelte Len aka Jan still vor sich hin und beschloss, in der Sekunde das Weite zu suchen.

Als er die Bibliothek, leider ohne die winzige Schachtel, verlassen hatte und ob eines offensichtlich herannahenden Schnupfens eine Apotheke aufsuchen wollte, stellte er zu seinem großen Entsetzen fest, dass er sich in Helsinki befand, wo er schon einmal mit seiner Großnichte gewesen war. Und nicht nur das! Die Leute waren seltsam angezogen, und es fuhren auch keine Autos vorbei, sondern Pferdekutschen. „Ja Himmelherrgott, was ist denn hier los?“, stammelte Len aka Jan. Und allmählich begriff er, dass er beim Verlassen der Bibliothek offenbar ein Zeitreise angetreten hatte.

Allmählich begriff er, dass er beim Verlassen der Bibliothek offenbar ein Zeitreise angetreten hatte.

Er allerdings, er hatte nach wie vor das gleiche Gewand an, was wiederum die Finnen, jedenfalls den finnischen Blicken nach zu schließen, zu erstaunen schien.

Len aka Jan machte die nächste unliebsame Entdeckung. Es waren ihm Brüste gewachsen.

Als Len aka Jan dann aus Gewohnheit, fast könnte man sagen, es war manisch, in die Brusttasche seiner Jacke greifen wollte, um sich zu vergewissern, dass Geld und Pass noch da waren, machte er die nächste unliebsame Entdeckung. Es waren ihm Brüste gewachsen, wohlgeformte Brüste einer Frau. Dennoch schaffte er es irgendwie, den Ausweis in seine Finger zu bekommen. Und aus welchem Impuls heraus auch immer, öffnete er den Pass. Und was geschah jetzt? Eine hübsche Frau lächelte ihn vom Foto an. Und diese Dame hieß Lena Kajan.

von ACHIM SCHNEYDER

Lena Kajan also, dachte Len. Und verliebte sich erst einmal sofort in sich selbst. Denn, wie er nach einem langen Blick ins spiegelnde Schaufenster eines Bonbon-Geschäfts feststellen konnte: Er war tatsächlich wunderschön. Leider dachte er aber nach wie vor wie ein Mann, und das stellte ihn gleich vor mehrere Probleme. Denn im Gegensatz zu einer Frau war er nicht nur nicht multitaskingfähig, er brachte jetzt überhaupt keinen klaren Gedanken zustande.

Leider dachte er aber nach wie vor wie ein Mann, und das stellte ihn gleich vor mehrere Probleme.


In Lens Kopf herrschte das totale Chaos. Plötzlich beschäftigten ihn, abgesehen davon, in welchem Zeitalter er gelandet war, die aberwitzigsten Fragen: Gibt es in dem Zuckerlgeschäft auch Katzenzungen (seine Lieblingsschokolade seit Kindestagen), und wie sagt man dazu auf Finnisch? Wo bekomme ich einen Lippenstift her? Vintage-Rose hätte er gerne aufgetragen, so wie er es einmal bei einem Model in einem Magazin gesehen hatte. Lauter so Zeugs verwirrte ihn jetzt.

Abgesehen davon verspürte er den immer heftiger werdenden Drang, seine Brüste zu berühren, was er aber dann doch für unschicklich hielt. Kein Wunder, dass ihn bald eine erstklassige Panikattacke erfasste, die er jedoch überspielte.

Schließlich überquerte er forschen Schrittes die matschige Straße, lief dabei aber so nah an einem Pferdegespann vorbei, dass ihm ein Gaul geradewegs ins Dekolleté trenzte.

von HARALD NACHFÖRG

Harter Tobak und jede Menge Sabber: Lena Kajan wurde etwas blümerant. Sie musste sich sortieren. Erst die Sache mit der Zeitreise, dann die spontane Geschlechtsumwandlung und vor allem: dieser eigenartige Name. Kajal, das hätte ihr besser gefallen: Lena Kajal – das hat Schmackes, das hat Drive. Mit Lena Kajak hätte sie auch noch gut leben können, aber was soll’s – im Helsinki der vorigen Jahrhundertwende jammerte man nicht wegen solcher Formalitäten.

Mit einer energischen Handbewegung wischte sie sich den Pferdespeichel von der Brust und machte sich auf den Weg zum alten Hafen. Instinktiv und auf Bauchgefühl vertrauend – aber auch wegen der Seekarte, auf die ihr Blick in der Bibliothek gefallen war. Damals. Gestern. So lange schien es her. Wo war sie da bloß hineingeraten?

Damals. Gestern. So lange schien es her. Wo war sie da bloß hineingeraten?

Lämmin hymy ja ystävällinen tervehdys saavat varmasti heidät tuntemaan olonsa mukavammaksi“, zischte ihr der alte, krummbeinige Mann nach, in dessen mit allerlei schimmernden Fischinnereien gefüllten Leiterwagen sie beinahe gerannt wäre – und oh Wunder: Sie verstand jedes Wort: „Ein freundliches Lächeln und ein herzlicher Gruß können Wunder wirken“,  hatte er ihr tadelnd zugerufen. „Senkin pahvipää – du alter Pappkopf“, gab sie in Gedanken schroff zurück, denn der von Möwen bekreischte Helsinkier Hafen lag bereits in all seiner knorrigen Schönheit vor ihr.

Keine Zeit für Geplänkel. Sie musste an Bord, sie spürte es, es zog sie hin, sie musste weiter. Doch wohin? Wo würde sie die sibyllenhafte Seekarte finden? „Kippi“, grunzte ihr eine grell geschminkte Hafendirne zu, eine Flasche Wodka schwenkend: Prost, du alte Schachtel.

Und da wusste sie es.
Lena bestieg die Fähre nach St. Petersburg.

von JANINA LEBISZCZAK

Lena sah sich um. Es war ein gewaltiges Schiff mit vielen Ebenen, Treppen Winkeln und Räumen. Düstere Gestalten säumten den Weg, standen in Gruppen zusammen. Wichen ihr aus, wenn sie sich näherte. Unterhielten sich nicht. Blickten sie an – und wieder weg. In den Ecken saßen ein paar Frauen und Kinder. Auch sie sprachen nicht. Es war gespenstisch. Ein zahnloses Männchen baute sich vor ihr auf. Es war schäbig gekleidet, seine Schuhe löchrig. „Endlich. Komm mit“, sagte es forsch. „Wir haben dich erwartet.“ Lena zuckte zusammen. „Wer war wir? Was sollte das heißen?

Sie folgte dem Gesellen. Sie merkte, dass sie beobachtet wurde, hörte Getuschel. Im Schiffsbauch änderte sich das Licht. Alles war in Orange getaucht. Die Wände waren in Brokat gekleidet, und elegantes Mobiliar stand herum. Ein paar Männer saßen auf den Sofas und blickten sie an. Niemand sprach. Sie ging weiter, an unzähligen Taubenkäfigen vorbei, in denen hunderte Vögel vor sich hin starrten. Keine Taube gurrte. Es war still. Ihr Blick fiel auf Kisten mit Büchern. Sie verlangsamte ihren Schritt und las die Buchrücken. Es waren tausende Bücher eines Titels: „SEI BEREIT“ stand da geschrieben. In ihr rührte sich ein eigentümliches Gefühl. Wo hatte sie schon einmal von diesem Buch gehört? „Du erinnerst dich?“, kicherte da das Männchen und zeigte auf die Bücher. „Wir haben es. Und wir werden es in die Welt tragen. Niemand kann es verhindern, nicht einmal du.“ Ihr wurde übel. „SEI BEREIT“ … was sagte ihr das? Das Männchen riss an ihrem Arm. „Komm weiter, es ist Zeit“, zischelte es ihr zu.

Das Männchen riss an ihrem Arm. ‚Komm weiter, es ist Zeit‘, zischelte es ihr zu.

Sie betraten einen Raum voller Prunk. In der Mitte stand eine Art Thron mit samtenen Polstern, umsäumt von hunderten Laternen. An der Seite standen Kinder. Nicht jünger als acht, nicht älter als zehn, in rotes Tuch gekleidet. Sie blickten zu Boden und waren still. Ein Mann mit mächtigem Bart erhob sich von dem Thorn, musterte sie. Er reichte ihr ein Buch, „SEI BEREIT“ stand auch auf ihm. Sie blickte fragend auf. Da brüllte er voller Zorn: „Es reicht! Das ist doch lächerlich!“ Mit zwei Säbelstreichen zerschnitt er Lenas Kleid. Nun wusste sie, wo sie war. Und mit wem sie da war. Und sie ahnte, was nun geschehen musste. Sie erschauerte. Die Kinder begangen zu weinen, stumm. Aus einer Ecke löste sich eine Gestalt. Ein Harlekin kam auf sie zu. Eine Taube erhob sich und schiss ihm auf den Kopf. Lena hörte die anderen Tauben aufgurren.

von HEIDI LIST

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ÜBER DIE KETTENBRIEF-SAGA
Wir Journalisten, Kolumnisten, Autoren, Dichter, Denker und Schreiberlinge tun was. Und zwar das, was wir am besten können – schreiben. Wir schreiben eine Geschichte, alle zusammen. Jeder was er will und so viel er will – einen Absatz, einen Satz oder zwei, ein ganzes Kapitel, egal.

Was für eine Geschichte es werden soll? Keine Ahnung. Vielleicht ein Thriller, ein Liebesroman, ein Märchen? Vielleicht wird es auch eine Mordsmysteryzombieapokalypsenlovestory, vielleicht eine poetische Tierfamilienrealitysaga? Man weiß es nicht. Was aber jetzt schon sicher ist: Es wird ein Abenteuer. Für die, die schreiben, und für die, die lesen.

SO FUNKTIONIERT’S
Ein Schreiberling nominiert den nächsten – und zwar via Facebook. Aufgabe ist es, unmittelbar an den Text des Vorgängers anzuschließen. Aufgabe ist es nicht, die Geschichte des Vorgängers genau so weiterzuerzählen, wie der es gemacht hätte.

Jeder Schreiber nutzt seine Sprache, seinen Stil, seine Fantasie. Und rettet vielleicht Leben, indem er einen Vogel fliegen lässt, der die Nachbarskatze ablenkt, die dann eben doch nicht über die Straße läuft … Oder er lässt den Max der Maria zuzwinkern, was natürlich weitreichende Folgen haben kann. Vielleicht zwinkert Max aber auch nicht, sondern schießt …

Fortsetzung:

Eine ganze Wolke erhob sich, umflatterte den greisen Kobold. „Jedes Opfer zählt!“ Lena glaubte nicht richtig zu hören. „Jedes Opfer zählt!“ Eine wahre Hundertschaft blütenweißer Kackbatzen ergoss sich über den Gnom. Füllte den Schiffsboden mit einer amorph glitschenden Masse, in die der Harlekin mit zu zerfließen schien. Len aka Jan hatte mal in einer Hafenkneipe in Sevilla gebratene Taube gegessen, eine spektakulär ekelhafte Erfahrung. Jetzt, wo sie Frau geworden war, fragte sie sich, ob die frittierten Fleischfetzen eines auf Mülleimern und Kloaken herangezogenen Wesens nun Brustfett und Hüftspeck an ihrem neu gewonnen Körper mit bevölkerten. Keine Schönheit schließlich ohne Maden im Gebälk. Und doch verkaufen wir uns alle nur als blanken Zuckerguss.

Keine Schönheit schließlich ohne Maden im Gebälk. Und doch verkaufen wir uns alle nur als blanken Zuckerguss.

Der Gnom war längst im seidig weichen Sud aus Hefe, Schlatz und Pilzgewirr versunken. Seine Zunge allein reckte sich noch aus dem Milbenmeer. „Jedes Opfer zählt. Sei bereit!“ Die Kinderschar hatte frenetisch zu stampfen und rhythmisch zu singen begonnen, klatschte in die Hände, stampfte und spritzte über die Planken. Eine Polonaise aus Kleinchenkörpern, die durch den Raum zischte wie ein entfesselter DNA-Code.  Der Mann mit mächtigen Bart und mächtigen Schwert war auch mit einem mächtigen Bauch ausgestattet, eine haarige Halbkugel, die Lena nun fordernd entgegen schritt. Obszön nah stand er nun dran an ihr, schnaufte in ihr Haar, drückte ihr seine knorpelig vom Brustkorb baumelnden Manntitten ins Gesicht. Lena starrte hinab in die Tiefe jeder Nasenpore, die auf sie hin stierte. Nicht mal Talg. Einfach nur maßlose innere Leere. Und übermannende Aufdringlichkeit.    

Bist du bereit? wiederholte die Manngestalt, öffnete sein um die Beine gehülltes Tuchwerk. Doch statt einer erwartbaren wie banalen Erektion prunkte ein praller Apfelkrapfen anstelle des Geschlechts. Gestampfte Haselnüsse und Zimt rieselten aus dem Schritt herab. Lena musste lachen.

Das Leben ist nun mal kein Tentakelporno, dachte sie sich. Zumindest nicht dann, wenn man’s braucht.

Es waren Karamell-Stangen, Kirschsaft, pulsierende Blobs aus Pistazienpudding.

Sie brach dem Mannwesen mit einem eleganten Aufbäumen ihres Ellbogens den Nasenrücken entzwei, entriss das Schwert seinen Knackwurstfingern, spaltete die Wampe mit einem einzigen Niedersausen der Klinge. Und, oh Wunder, es waren nicht Fett, Eiter, Brunft und Blut, die Lena da entgegenschwappten. Es waren Karamell-Stangen, Kirschsaft, pulsierende Blobs aus Pistazienpudding. Die Kinderschar heftete sich mit spitzen Zähnen an die äußeren Bauchränder des geöffneten Königs. Fraß und schluckte gierig die offengelegten Spezereien. Lena aber, sie war nun wirklich bereit. Sie quetschte ihren nackten Leib durch das Wampenrund, tauchte hinab in diese süßesten aller süßen Untiefen, ein Marianengraben glykämischer Ekstasen. Sie paddelte ein zwei Schwimmzüge durch das zuckrige Dunkel, nur durchzogen von wenigen Leuchtquallen in Grellrosa und Blütenlila. Hier würde sie ihre Bestimmung finden. Hier würde sie endlich rausfinden, wer sie wirklich war.

Und tatsächlich: Zwei zärtliche Bubenhände umfassten ihr Gesicht, drückten ihr den Daumen über die Lippen. Ein hauchdünnes Flüstern an ihrem Ohr: Mitja, mein Mitja, endlich hab ich dich wieder gefunden.     

von PAUL POET

Len aka Jan öffnete die Augen …

Len aka Jan öffnete die Augen. Hart spürte er den Boden unter seinem Rücken. 

Doch es waren keine schleimigen Schiffsplanken, sondern ein gebohnerter, gewienerter, geschliffener, mit einem Wort hochglanzgepflegter Parkettboden. Er musste niesen. „Schon wieder …“, dachte Len aka Jan, und langsam dämmerte ihm, wo er sich befand. Ein Blick aufwärts, entlang des bunten Canyons an dicken und dünnen, alten und neuen, auf die unterschiedlichsten Arten beschrifteten Schindeln lieferte ihm den letzten Beweis. „Buchrücken“, dachte Lena aka Jan. „Ich habe die Bibliothek nie verlassen.“

‚Buchrücken‘, dachte Lena aka Jan. ‚Ich habe die Bibliothek nie verlassen.‘

Und während sich die Dämonen in ihren Hängematten zuprosteten und die nächste Magnumflasche öffneten, triumphierend über den großartigen Erfolg der ersten Etappe ihres als Marathon geplanten Leidenswegs, den sie Len aka Jan nornengleich zu spielen gedachten, griff sich Len sicherheitshalber an die Brust. Sie war flach. Einerseits erleichterte diese schlichte – und ehrlich gestanden, zu erwarten gewesene – Tatsache Len ungemein. Andererseits spürte er auch ein leises Bedauern. Er rappelte sich auf und bestieg die Leiter, um noch einmal zu der Stelle zu kommen, an der laut Emilys Angaben die Schachtel lag. „17“, dachte Len nachdenklich, „Die Leiter hat 17 Sprossen. Eigenartig.“ 

Doch kaum hatte er die Leiter bestiegen, hielt er mitten in deren Erklimmen inne. Entschlossen griff Len in jene Tasche seiner Jacke, in der er seinen Schal beim Betreten der Bibliothek verstaut hatte. Vorsichtig wickelte er ihn um Mund und Nase und zurrte ihn miederschnurartig fest. „Der Staub, es muss der Staub gewesen sein, Jan!“, murmelte er halblaut.

Der Staub, war offenbar kein Staub. Emily muss eine Art Droge, ein Halluzinogen, an der Stelle aufgebracht haben.

Len nannte sich in Selbstgesprächen immer bei seinem Nachnamen. Manchmal benutze er dabei auch seinen vollen Namen: Len aka Jan. Sein zweiter Vorname war japanisch und bedeutet „blutrot“. Ein Name, auf den sein Vater bestanden hatte, da die Haut von Len nach der Geburt krebsrot angelaufen war, eine auf alle Besucher befremdlich wirkende Färbung, die erst nach mehreren Tagen abebbte. „Der Staub, war offenbar kein Staub. Emily muss eine Art Droge, ein Halluzinogen, an der Stelle aufgebracht haben.“ So einfach wollte es ihm seine Halbschwester offenbar nicht machen. Das Kästchen musste wirklich wertvoll sein – oder wirklich wichtig. Len stieg die Leiter weiter hinauf. 

Er war aus Emily noch nie schlau geworden. Besonders diese Faszination für Schornsteinfeger … Len schüttelte den Gedanken ab. Er atmete vorsichtig ein und hielt anschließend den Atem an. Endlich beugte er sich vor und griff nach dem Kästchen. Mit spitzen Fingern nahm er das kleine Ding an sich und führte es nahe an sein schalvermummtes Gesicht. Er kniff die Augen zusammen. Da war ein kleiner Schriftzug zu erkennen … Als er ihn las, durchzuckte es Len eiskalt. „Sei bereit!“, stand auf dem winzigen Schmuckkästchen, „SEI BEREIT!“

von HARALD HAVAS

„Sei bereit“? Ein tiefer, langgezogener Seufzer windet sich aus den Untiefen seines Leibes, das schalvermummte Gesicht vor Ekel und Verbitterung zu einem hässlichen Grinsen verzerrt. Seine Finger beginnen zu zittern, weichen wie von unsichtbarer Macht geführt vor dem Kästchen zurück. Eiskaltes Händchen, ein heißer Schauer entlädt sich entlang seines Rückens. Die Knie können die Last des Schmerzes nicht mehr tragen, Len aka Jan sackt in sich zusammen. Er macht sich ganz klein, kauert wie ein angeschossenes Tier auf der Leiter. Ganz oben, 17. Sprosse.

Bereit ist er sein ganzes Leben lang. Nichts anderes ist er im Grunde je gewesen.

„Sei bereit“. Dazu muss man einen wie ihn nicht ermahnen. Bereit ist er schon sein ganzes Leben lang. Nichts anderes ist er im Grunde je gewesen. Bereit, seit er um 5.58 Uhr des 11. Juni 1972 dem warmen Körper seiner Mutter entfleuchte, um einen ersten zarten Schrei zu tun. Sein Aszendent hatte nur darauf gewartet. Nutzte den Augenblick, um von dem unschuldigen Baby Besitz zu ergreifen, sich von ihm absorbieren zu lassen. Bereit, seit der blutrote Krebs in seinem Inneren zum ersten Mal aufbegehrte, die Scheren schliff und die Welt wissen ließ: Er ist hier. Len aka Jan ist hier. Ein kleines Häufchen Mensch mit starkem Haarwuchs und schwacher Lunge, das sich die Aufmerksamkeit schon zu Beginn seines irdischen Daseins auf bizarre Weise erschleichen musste.

Emily nahm davon keine Notiz. Auf dem Fußende des Bettes ihrer Mutter sitzend, die Beinchen im Takt der Wanduhr baumelnd, liebkoste die Halbschwester den Knopf in ihrer rechten Hand. Streichelte ihn mit dem Daumen. Im Uhrzeigersinn. So, wie sie es immer tat. Summend, Benjamin Britten im Ohr. Der Knopf war ihr Schatz. Daran konnte ein Baby mit schwarzem Schopf und rotem Konterfei, die Züge auf groteske Weise entgleist, gar nichts ändern. 47 Jahre ist das her. 47 Jahre, in denen sich die Demütigung hungrig wie ein Wolf durch Lens Innenleben fressen konnte.

Kann es wahr sein? Hat sich das Glück auf seinen samtenen Pfötchen tatsächlich still und leise angeschlichen?

Doch damit ist Schluss. Heute, jetzt. Mit aller Kraft entreißt er seinen Dämonen die Magnumflasche Rotwein, schmettert die boshaften Derwische aus der Hängematte und bäumt sich ganz oben auf der Leiter zu voller Größe auf. Die Hand macht sich selbständig, greift gierig nach der türkisen Schatulle. Ein Zucken durchfährt die Fingerspitzen, als er den weichen Samt berührt. Sie fällt, alle 17 Sprossen, und landet fast lautlos auf dem Boden. Der Verschluss öffnet sich und schenkt einem vergilbten Zettel die Freiheit. Das Abbild des kleinen schwarzen Männchens (mit Hut) erkennt er schon aus der Ferne. Alles in Len beginnt zu beben. Kann es wahr sein? Hat sich das Glück auf seinen samtenen Pfötchen tatsächlich still und leise angeschlichen? Der Meister des Malheurs, der Fachmann der Fallen und Fettnäpfe klettert nach unten, bückt sich und liest die Worte, die ihm ein Leben lang gefehlt haben: „Die Schornsteinfegerinnung der Stadt Espoo wünscht ein frohes Jahr 1972.“

von MARIA DORNER

Glück? Soll er es jetzt wirklich als Glück bezeichnen, dass seine Halbschwester ihn in einer debilen Schnitzeljagd zur Wahrheit lotsen will? Nach 47 Jahren? Nein, er, der Großmeister der Fallen und Fettnäpfe, muss sich diesen neuen Tiefpunkt in seinem Leben nicht schönreden. Len aka Jan schießen Tränen in die Augen. Nicht, weil ihn die Wahrheit, nach der er sein Leben lang gesucht hatte, so schmerzen würde. Nein, verflüssigter Zorn spritzt da nun in Fontänen aus seinem Gesicht. Er bebt vor Wut. Blickt in der miefenden Bibliothek seiner Halbschwester um sich und stürzt nochmals auf die Leiter zu. Hechtet die Sprossen, die er vor wenigen Stunden noch mit viel Bedacht genommen hat, mit einem Tempo empor, als würde es hier um olympisches Gold gehen. Rot war er, der Einband des seltsamen Wälzers. Er dachte sich vorhin schon, Emily würde langsam den Verstand verlieren. Aber gut, ihre pseudo-intellektuellen Freundinnen recken den gelifteten Hals ohnehin nicht so weit nach oben, wenn sie sie vor dem Prosecco durch die gut bestückte Bibliothek schleust.

Er jedenfalls weiß, auf der 17. Stufe angekommen, genau, nach welchem Buch er greifen muss. Es ist der Bildband mit den 17 schönsten Schornsteinfegern des letzten Jahrzehnts.

Len aka Jan jedenfalls weiß, auf der 17. Stufe angekommen, genau, nach welchem Buch er greifen muss. Es ist der Bildband mit den 17 schönsten Schornsteinfegern des letzten Jahrzehnts. Len aka Jan schlägt ihn auf und hält ein bereits geöffnetes Kuvert in Händen. Er fingert das vergilbte Briefpapier heraus und fliegt hastig über die mit billigstem Bic-Kuli gekritzelten Zeilen. Die Worte, die da stehen, schnüren ihm die Luft zum Atmen ab: „Nur, damit wir uns verstehen: kein Wort. Wenn du den Balg mit dem roten Schädel nicht nimmst, erfährt jeder, was in Zimmer 164b passiert ist. Überlege es dir gut.“

Len aka Jan hat keine Tränen mehr übrig, als er den Briefkopf genauer unter die Lupe nimmt. Strafvollzugsanstalt Suomenlinna, Helsinki, ist da aufgedruckt. Darunter ist die Untersuchungshäftlingsnummer 6423568 händisch ergänzt. Als seine Gedanken wie bei einem Sudoko für Fortgeschrittene zu rattern beginnen, reißt jemand die Türe zur Bibliothek auf. Und schon dringt ihm dieses unverkennbare schwere Parfüm in die Nase, mit dem er sie mit verbundenen Augen unter Tausenden identifizieren könnte. 

von CLEMENS OISTRIC

Kaskaden an Erinnerungen stürzen auf Len aka Jan ein …

Kaskaden an Erinnerungen stürzen auf Len aka Jan ein, und es scheint als säße plötzlich wieder der alte Akkordeonspieler im Raum, der dieses Lied spielt: „Les Bateaux du Courrier“. Damals in der Bretagne, am Strand von Saint-Malo, Anfang Oktober: „Elle attendait, au pied du phare, un bruit de moteur ou de voile. Du matin jusqu’aux étoiles. Elle entendait, au fond du vent. Comme un espoir du continent.“

Damals, als der Rotwein ihn erstmals so benommen gemacht hatte, dass er vom Rauschen des Meeres erwacht war, in dieser Bucht, in besudelten Leinenhosen und mit verdammt schalem Geschmack im Mund. Seine Gier auf frische Austern und ein Glas Cidre tat ihm weh und war ihm irgendwie peinlich. Wie war er nur hier gelandet? Len aka Jan konnte sich nicht mehr erinnern, der Rotwein zerfranste das Gestern wie der Wind die Gischt. Er sah sich um: Da war diese Frau, unweit des Akkordeonspielers, sie saß auf dem Boden und ließ Sand durch ihre Hände rieseln, während sie versuchte, einzelne Spitzen ihrer dunklen Haare mit den Lippen einzufangen. Irgendwann stand sie auf, schlenderte zu ihm herüber und sah ihn an: „Du bist fremd, was willst du hier?“ Er hätte ihr gerne etwas sehr Originelles geantwortet, doch das Summen, Dröhnen, Stampfen in seinem Kopf ließ nur zwei Gedanken zu: „Her mit den Austern!“ Sowie: „Shit, diese Augen!“ Also sagte er fürs Erste: „Hi, ich bin Len. Weißt du zufällig, wo es hier Muscheln gibt?“

Er wird den Namen ihrer ersten Puppe kennen und bis zum Schluss nichts über ihre Eltern wissen.

Später wird Len aka Jan erfahren haben, wie sie heißt und dass die Frau mit den dunklen Haaren Austern hasst, aber den besten bretonischen Butterkuchen backen kann. Er wird wissen, wie sie schmeckt und dass sie im Schlaf leise weint. Sie werden das Lied vom Strand „ihr Lied“ nennen. Er wird auf ihre Haut Olivenöl tropfen lassen, und der Raum, in dem sie schlafen, leben und lieben, wird nach dunkler Erde riechen. Er wird den Namen ihrer ersten Puppe kennen und bis zum Schluss nichts über ihre Eltern wissen. Er wird trotzdem eine lange Zeit überzeugt sein, dass er über sie alles weiß, was er wissen muss, und sein Leben in ihre Hände legen. Um eines Tages am Gedanken daran zu zerbrechen, dass alles, was er glaubte über sie zu wissen, doch nur seltsam geträumt war.

Da steht sie nun, als hätte sie sich aus einer anderen Galaxie in diesen Irrtum namens „Lens aka Jans Leben“ verirrt. „Du bist fremd, was willst du hier?“, fragt er sie. Mehr fällt ihm in diesem Moment echt nicht ein, nur an seine Austernvergiftung erinnert er sich plötzlich wieder. Maélys aber antwortet nicht, sie singt nur. Ganz leise singt sie es, dieses Lied, ihr Lied, diesmal auf Deutsch mit Akzent: „Sie wartete am Fuße des Leuchtturms. Ein Motor- oder Segelgeräusch. Vom Morgen bis zu den Sternen. Sie hörte am Ende des Windes: Wie eine Hoffnung vom Kontinent.“

von GABRIELE KUHN

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ÜBER DIE KETTENBRIEF-SAGA
Wir Journalisten, Kolumnisten, Autoren, Dichter, Denker und Schreiberlinge tun was. Und zwar das, was wir am besten können – schreiben. Wir schreiben eine Geschichte, alle zusammen. Jeder was er will und so viel er will – einen Absatz, einen Satz oder zwei, ein ganzes Kapitel, egal.

Was für eine Geschichte es werden soll? Keine Ahnung. Vielleicht ein Thriller, ein Liebesroman, ein Märchen? Vielleicht wird es auch eine Mordsmysteryzombieapokalypsenlovestory, vielleicht eine poetische Tierfamilienrealitysaga? Man weiß es nicht. Was aber jetzt schon sicher ist: Es wird ein Abenteuer. Für die, die schreiben, und für die, die lesen.

SO FUNKTIONIERT’S
Ein Schreiberling nominiert den nächsten – und zwar via Facebook. Aufgabe ist es, unmittelbar an den Text des Vorgängers anzuschließen. Aufgabe ist es nicht, die Geschichte des Vorgängers genau so weiterzuerzählen, wie der es gemacht hätte.

Jeder Schreiber nutzt seine Sprache, seinen Stil, seine Fantasie. Und rettet vielleicht Leben, indem er einen Vogel fliegen lässt, der die Nachbarskatze ablenkt, die dann eben doch nicht über die Straße läuft … Oder er lässt den Max der Maria zuzwinkern, was natürlich weitreichende Folgen haben kann. Vielleicht zwinkert Max aber auch nicht, sondern schießt …

Fortsetzung:

An der Oberfläche von Maélys samtig dunklen Augen spiegeln sich Wolken, die der Wind über den Himmel treibt.

Als das Lied auf Maélys’ Lippen verstummt, dreht in Lens aka Jans Kopf das Stroboskop am Rad. Die feisten Dämonen in seiner Seele, die ihn, seit er denken kann, mit Häme überschütten, um ihn vor sich selbst und der Welt wie einen Troll dastehen zu lassen, wippen sich behäbig aus ihren Grotten und ätzen: „Die Frage nach den Muscheln, das hirnlose Wiederholen ihrer Frage – wie vertrottelt von dir...“  – Es braucht nicht viel, um Lens aka Jans Aufmerksam in selbstzweifelnden Verstrickungen zu binden, funktioniert blind schon beim leisesten dämonischen Zuruf von innen. Es geschieht, während Maélys in ihrem weißen Leinenkleid einfach nur dasteht und ihn ansieht.

Fragend? Freundlich? Fordernd? Frivol? Frei.

„Das Fremde will immer dasselbe“, sagt sie nach ein paar in die Länge verzerrten Augenblicken. Als würde sie spüren, dass in seinem Kopf die neuronale Verbindung zum Sprachzentrum jäh abbricht, sobald er etwas sagen will. „Und was will es, das Fremde?“, presst Len aka Jan mit bemüht angesteuertem Lächeln hervor und erntet für die unsichere Brüchigkeit seiner Stimme spontanen Dämonenhohn. Die Frage verhallt, als wäre sie nie gestellt worden. An der Oberfläche von Maélys’ samtig dunklen Augen spiegeln sich Wolken, die der Wind über den Himmel treibt. Wie eine Widerspiegelung des Stroboskopeffekts in Lens aka Jans Kopf, wie ein Echo der Dämonenstimmen, übersetzt in optische Signale auf fremden Pupillen. Dieser Bewegungseffekt verleiht Maélys’ Augen eine zusätzliche Sensation – etwas Magisches, auch etwas Dominantes, Bedrohliches, Len aka Jan kann weder wegschauen noch den Blick halten.

Wenn Sentimentalität und Sehnsucht im Duett singen, dann atmet die Seele aus.

„Das Fremde will ergründen oder ergründet werden“, antwortet Maélys in ihrem Akzent, der nicht zur Präzision ihrer Sprache passt. Len haspelt, ohne den Satz auf sich wirken zu lassen, ein verlegenes „Ja, da hast du sicher recht“ hinterdrein, wieder von den Dämonen verlacht und verunsichert.

„Ja“, sagt Maélys mit dieser gehauchte Nuance in ihrer Stimme, wie vorhin beim Lied. Wenn Sentimentalität und Sehnsucht im Duett singen, dann atmet die Seele aus.

Zum ersten Mal lächelt sie. Zwischen Grübchen, die ein makelloses Ensemble aus vollen, von dezentem Rot ins Violette changierenden Lippen und sehr geraden, weißen Zähnen umgrenzen. Und, jetzt fällt es ihm auf: eine Choreografie aus Sommersprossen tanzt in diesem ebenmäßigen Gesicht, wenn es lächelt. Nicht viele Sommersprossen, nur ganz leicht vom olivfarbenen Teint abgehoben. 

„Wie heißt du eigentlich?“

„Maélys.“

„Und ... du bist von hier, oder...?“

„Oder.“ (Sie lächelt wieder.)

„Ich … ich … verstehe …“

Den nächsten Termin bei der Therapeutin hatte er damals abgesagt und sich nie wieder gemeldet.

Anschlussfähiger Text will Len aka Jan nicht einfallen. Er ist noch zu fragmentiert von der Nacht davor, über die er nichts weiß, zu dehydriert vom Alkohol, zu derangiert vom Spannungskopfschmerz in seinem Nacken, zu unverwandt mit sich selbst. Die inneren Dämonen in ihm feixen ihren „Looser“-Sprechchor. Analoge Begegnungen mit echten Frauen waren für Len aka Jan immer schon sperrig gewesen. Vielleicht war er von Grund auf nicht dafür gemacht. Er suchte sie jedenfalls nicht, um nicht zu sagen: Er mied sie. Das wurzelte wohl in der Beziehung zur eigenen Mutter. Und in stereotypen Reinszenierungen von Mustern dieser Beziehung, die die Begegnungen mit anderen Frauen so verpixelten, dass ihm die Unterscheidung schwerfiel. So weit war er schon einmal gekommen in einer Psychotherapie, einige Jahre her. Den nächsten Termin bei der Therapeutin hatte er damals abgesagt und sich nie wieder gemeldet.

Len aka Jan hatte sich mit sich darauf verständigt, zu Frauen lieber auf Abstand zu bleiben. Um dieses innere Trudeln zu vermeiden, wenn sich zu viele zu tiefe Gefühle in ihm regten. Das war ihm seither wirklich gut gelungen. Die einzige Näheerfahrung mit eine Frau war die psychedelische Phänomenologie gewesen, selbst eine Frau mit großen festen Brüsten zu sein. Ein Traum, eine Ohnmacht, eine Trance? Er hatte nie ergründen können, was es war, damals in der Bibliothek. Seltsam, aber nie hatte er sich im eigenen Körper legitimierter für Sinnlichkeit gefühlt. Was immer ihn auf diese Astralreise in einen anderen Seinszustand entführt hatte, sie war nur ein kurzer Ausflug, eine Ausflucht gewesen, aus der Tristesse seiner inneren Abgetrenntheit. Len aka Jan war einer von der Sorte, die sich sicherer damit fühlten, wenn Frauen, kalibriert auf die Zollmaße eines Telefondisplays, nackt zu ihnen aufblickten – und irgendwie taten sie das alle in dieser Scheinwirklichkeit hinter Glas. 

„Warst du gestern bei Antoine, Len?“, fragt Maélys.

„Ob ich bei Antoine war? … Ich weiß es nicht …“

„Dann warst du bei ihm. Erst Rotwein, dann hat er die grüne Flasche auf den Tisch gestellt. Und diese alten, graugewaschenen Gläser … nicht wahr?“

Die grüne Flasche und diese Gläser – drei, fünf oder wie viele davon hatte er getrunken?

Diese alten, graugewaschenen dicken Gläser … stimmt. In Lens aka Jans zerhäckselter Erinnerung an die Nacht taucht ein Haltegriff auf. Die grüne Flasche und diese Gläser – drei, fünf oder wie viele davon hatte er getrunken? – auf dem schmierigen Tisch. Antoine, ja, richtig, der Wirt, sein Name war Antoine gewesen. „Jedes Opfer zählt“, hatte er jedes Mal gesagt, wenn Len aka Jan trank. Und sein Lachen, aus dem ein hinterer Backenzahn aus Gold blitzte, so weit riss er den Mund auf, war immer lauter geworden. Bis dann plötzlich – Filmriss, ein schwarzes Loch bis zu diesem verbeulten Erwachen, als hätte ihn eine Bauernarmee mit Dreschflegeln ins Koma geprügelt.

„Antoine braut das Zeug selbst“, fügt Maélys ein weiteres Bruchstück hinzu, „und die Fremden kriegt er alle damit, ging mir genauso, als ich neu hierher kam.“

Maélys bedeutet mit einer selbsterklärenden Handbewegung in Richtung eines Mauerabsatzes, auf den die Kinder des Dorfe mit Kreide Blumen gezeichnet haben, sich dorthin setzen zu wollen. Unschlüssig setzt sich Len aka Jan neben sie, auf die linke Seite. Maélys legt ihren rechten Knöchel hinter dem linken Knie ab, scheint bequem zu sein. Ihr Kleid öffnet entlang des seitlichen Schlitzes, gleitet zur Mitte ab, gibt Unterschenkel, Knie und noch ein Stück olivfarbener Haut darüber frei. 

„Haben sie auch ihr Spiel mit dir gespielt?“, fragt Maélys Len und klingt dabei besorgt.

„Das Spiel …?“ Welches Spiel …?“ Len aka Jan dämmert etwas, er findet aber keine Kontraste, keine Konturen in der Verschwommenheit.

„Antoine und seine Spießgesellen, diese Dreckschweine“, sagt Maélys jetzt. Ihr Angwidertsein erzeugt eine Interferenz im Sanften, die Len aka Jan aufschreckt.

Und sie fährt fort: „Sie nennen es ‚Deine Welt steht Kopf‘ – erinnerst du dich? ‚Komm, wir wollen dir jetzt unser Geheimnis zeigen‘, sagen sie nach ein paar Gläsern …“

Mehr kann ich dir nicht sagen, Len. Bitte mich auch niemals darum, niemals, hörst du?

Genau. Jetzt erinnert sich Len aka Jan. Antoine, der Wirt. Ein glatzköpfiger, etwas dümmlich wirkender Mann mit Schlachterschürze. Und der Hagere mit der runden Brille, an der ein Bügel mit Klebeband befestigt war: „Komm, wir wollen dir jetzt unser Geheimnis zeigen“, hatten sie zu ihm gesagt, ganz abrupt, als er noch das Nachbrennen eines mächtigen Schlucks in seinem Schlund gespürt und den Trinkspruch „Jedes Opfer zählt“ nachgelallt hatte.

„Dann sind sie mit dir hinter das Haus gegangen zu der alten Tür, auf die das mannshohe Kreuz genagelt ist, richtig Len?“

„Stimmt, wir sind dann raus. Die Flasche und mein Glas haben sie mitgenommen, wie du sagst, die Tür mit dem Kreuz …“

„Ich höre ihre Stimmen noch heute: ‚Deine Welt steht Kopf‘, immer schneller, immer lauter grölten sie diesen Satz“, sagt Maélys, als beschriebe sie den schlimmsten Albtraum ihres Lebens.

„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, Maélys. Es ist alles gelöscht“, sagt Len aka Jan.

„Sei froh. Sei froh, Len.“

„Ich weiß, was passiert ist: Sie haben dir gesagt, du sollst dich an die Tür lehnen. Dann haben sie dich an den Handgelenken und Knöcheln an das Kreuz gebunden. Dann musstest du trinken. Einen, noch einen und noch einen. Und dann ist es plötzlich komplett gekippt …“

„Was …“

Maélys: „Na das ganze Ding, mitsamt dir! Während sie im Chor ‚Deine Welt steht Kopf!‘ grölten, hat sich der Schlachter nach unten gebeugt und mit einem Ruck die Türe nach oben gerissen und du bist plötzlich mit dem Kopf nach unten am Kreuz gehangen. Bei mir war es so. Bei allen ist es so.“

„Kann sein, ich weiß es nicht mehr“, Len aka Jan war sehr dankbar für Maélys’ Rekonstruktionen, die exakt in dieser Sequenz endeten. „Mehr kann ich dir nicht sagen, Len. Bitte mich auch niemals darum, niemals, hörst du? Mit dem Rest muss jeder für sich klarkommen.“

von MICHAEL HOLZER

Wie Schemen aus einer Traumwelt sah, spürte und atmete er das uralte Wissen.

Ihre Worte berührten etwas ganz Wehmütiges in Len, ja, sie erschreckten ihn. Das Gesagte ließ eine verborgene Tür aufgehen, die ihn den Weg zu längst verloren geglaubten Erinnerungen wies. Wie Schemen aus einer Traumwelt sah, spürte und atmete er das uralte Wissen. Trunken senkte er seinen Kopf, schloss die Augen und folgte dem Rhythmus dieser flüchtigen Mäander. Er hoffte, sie besser greifen zu können, wenn er im Tanz ganz Teil von ihnen wurde.

Umso härter und gänzlich unvermutet traf ihn Maélys’ Schlag an seinem Hinterkopf. Mit chirurgischer Präzision riss die schwere Keule aus Eichenholz eine klaffende Wunde, und sein Körper sackte zusammen wie ein Kartenhaus. Zu seinem Erstaunen spürte er warmen Sand in seinem Gesicht, der ihn sanft aufnahm, aber ganz anders roch, als Len dies aus Kindheitstagen kannte. Dieser Sand hatte etwas unangenehm Schwefelartiges, das seine Nase reizte.

Nur die wenigsten wissen, dass Ertrinken der notwendige Schritt zu unserer Transformation ist.

Als er die Augen öffnete, sah er, wie Wasser ihn von allen Seiten umschloss. Kleine Wellen brandeten heran, zerschellten an ihm und zerfächelten den warmen Blutstrom, der sofort ein Teil des Meeres wurde. Er versuchte aufzustehen, aber sein Körper versagte ihm den Dienst. „Wie tragisch, wie dumm.“ Mit einem gleichgültigen Ausdruck in ihren Augen blickte Maélys auf Len herab. Er kämpfte gegen die Starre in seinen Gliedern an und sank doch immer tiefer. „Jeder versucht seinen Kopf über dem Wasser zu halten, will oben bleiben. Nur die wenigsten wissen, dass Ertrinken der notwendige Schritt zu unserer Transformation ist.“

Die Wellen waren mittlerweile größer, waren vehementer geworden. Sie bauten sich auf, als wollten sie sich bereit für den nächsten Akt machen. Auch der Geruch des Sandes hatte sich verändert. Die Erinnerung an einen Fischmarkt, an ein großes Schlachtfest, lag plötzlich in der Luft. Das Salz des Wassers und der eisenhaltige Geruch des Blutes überdeckte alles andere.

„Diese Welt folgt Grundprinzipien, die du nicht verstehen, sondern nur erleben kannst“, dozierte Maélys. „Als damals meine Welt kopfgestellt wurde, wollte ich das anfangs nicht wahrhaben. Deswegen musste auch ich bis auf den Boden des Ozeans hinabsinken. Als ich aus der Tiefe hinauf zur Welt schaute, sah ich die Wahrheit vor mir.“

Dem Wasser war er entsprungen, und jetzt rief es ihn zurück.

Die letzten Worte konnte Len aka Jan kaum mehr hören, das Meerwasser hatte seine Ohren erreicht und begann sie auszufüllen. Der Ozean umschloss ihn wie eine Mutter ihr verlorenes Kind. Dem Wasser war er entsprungen, und jetzt rief es ihn zurück.

Als nur mehr sein Gesicht herausragte, versuchte er sich aufzubäumen, Todesangst umfing ihn. Sachte, aber bestimmt drängte Maélys Lens Körper hinunter.

„Jeder muss irgendwann ertrinken. Schätz dich glücklich, du bist bald einer von uns“, flüsterte sie ihm sanft ins Ohr, oder zumindest glaubte er diese Wörter zu hören. „Eines will ich dir für die Tiefe mitgeben: Lerne wie ein Anker zu sinken, lerne der Urgrund des Ozeans zu sein.“

Er spürte ihren warmen Atem gegen das kalte Meerwasser.

Entschlossen umfasste sie mit ihren Händen Lens Gesicht und kam ihm ganz nah. Er spürte ihren warmen Atem gegen das kalte Meerwasser. Die Sehnsucht nach innigem Leben brandete vor der Gewissheit des Abgrunds auf. Für wenige Sekunden verharrten die beiden, und Maélys blickte durch Len hindurch direkt in seine Seele.

Zum ersten Mal hielt er dem Blick einer Frau stand. Len scheute nicht davor zurück, sondern erwiderte, ja, zelebrierte ihn sogar. In diesem Moment fanden ihre Münder zueinander, innig küssten sie sich. Alles löste sich auf, und ihre Wege verflochten sich untrennbar miteinander.

Nach Sekunden der Lust lösten sie ihre Lippen. Beide lächelten. Als er seine Augen schloss, hatte er sein Schicksal schon akzeptiert. Maélys drückte Len aka Jan tief in die Wellen. Das Meer nahm ihn auf, er war bereit zu gehen. Er sank, bis er nicht mehr sinken konnte. Bis alles nur mehr schwarz war, tiefstes Schwarz. So ein Schwarz, wie es sich sogar ein Schornsteinfeger nur erträumen konnte.

von FELIX und KLAUS HASELBÖCK

Sie würde nur kurz hier sein und nie wiederkommen. Sie hatte keinen Grund, sich an Regeln zu halten.

Erinnerungsfragmente, die sofort durch Lens Kopf schossen, als er diesen Geruch wahrnahm. Wie viele Spritzer Parfum musste man eigentlich auftragen, dass beim Aufmachen einer Tür sofort eine ganze Bibliothek geflutet wurde? Bis zur 17. Stufe einer Leiter hinauf? Maélys, ihre olivfarbene Haut, ihr Kleid, der Kuss im Sand, in der Gischt der wilden Wellen.

„Du hast den Brief also gefunden? Es war Emilys Idee, eine große Show daraus zu machen.“ Es war nicht Maélys, die dort stand. „Pssst!“, machte es wieder von einigen Tischen der Bibliothek. Doch die neue Besucherin beachtete die Maßregelungen nicht. Sie würde nur kurz hier sein und nie wiederkommen. Sie hatte keinen Grund, sich an Regeln zu halten. „Komm runter und komm mit!“, sagte sie über die Tischreihen hinweg und nickte in seine Richtung.

Alle Blicke lagen nun auf ihm. Sofort spannten sich seine Oberschenkelmuskeln an, und die Steife breitete sich aus. Ungelenk stieg er die 17 Sprossen nach unten und hörte währenddessen die Dämonen lachen: „Steif, steif, steif bis in den Zeh macht dich nur die Angst. Immer nur die Angst.“ „Mund halten“, murmelte er und ging auf die Frau zu, die im Türrahmen stehengeblieben war.

M… Mama?

„M… Mama?“ Ohne darauf zu reagieren, drehte sie sich um und ging davon. Nur die Handbewegung, die sie ihm bedeutete ohne zurückzuschauen, verriet, dass sie es sich nicht anders überlegt hatte und ihn wegen seiner Anrede stehen ließ. Nein, sie hielt an ihrem Plan fest und wollte, dass er ihr folgte.

Len aka Jan lief ihr hinterher durch die Gänge der Bibliothek und durch die schwere Holztür nach draußen ins Freie, in den Park. Die fünf Minuten glichen einer Verfolgungsjagd, während der er abzuschätzen versuchte, ob sie es wirklich war. Seine Mutter, die er vor über 20 Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Er spürte das vergilbte Papier zwischen seinen Fingern. Ein Brief, der prophezeite, dass selbst wenn sie es war, diese Frau doch nicht seine Mutter war. Zumindest nicht seine biologische.

Sie setzte sich auf eine Parkbank. Er setzte sich daneben. Beide schwiegen. Das Parfum nahm auch im Freien Besitz von der Luft. „Dieser Duft …“, hob er an, „… vor langer Zeit war da eine Frau in Frankreich… wir haben eine Nacht zusammen verbracht … da waren Wellen … und Sand, Geheimnisse …“ Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Maélys?“ Sie nahm sich wieder zusammen und legte ihre Hand auf seinen immer noch angespannten Oberschenkel. „Ach, mein Sohn, ihr Männer habt immer dieselben Träume, nachdem ihr von Antoines Gebräu gekostet habt. Nachdem eure Welt Kopf stand. Alle liegt ihr umschlungen mit Maélys in den Wellen, während wir euch in eurer Bewusstlosigkeit in eure Zimmer tragen. Oder was meinst du, warum du in deinem Bett aufgewacht bist?“

Wir mussten sie finden damals, verstehst du? Und jetzt müssen wir sie noch einmal finden. Und du wirst uns dabei helfen.

Len aka Jan antwortete nicht, schaute sie nur an. „Ich war da an diesem Abend. Mein Parfum … ach egal. Wir wollten damals etwas aus dir herausbekommen. Deine richtige Mutter hatte dich ein paar Tage zuvor kontaktiert.“ Er hatte den Brief also richtig verstanden – sie war nicht seine Mutter und sie sagte es so nonchalant, als wäre diese Wahrheit immer da gewesen. Und seine richtige Mutter hatte ihn kontaktiert? Len aka Jan hatte keinerlei Erinnerung daran. „Wir mussten sie finden damals, verstehst du? Und jetzt müssen wir sie noch einmal finden. Und du wirst uns dabei helfen.“

von KATHARINA LEHNER

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ÜBER DIE KETTENBRIEF-SAGA
Wir Journalisten, Kolumnisten, Autoren, Dichter, Denker und Schreiberlinge tun was. Und zwar das, was wir am besten können – schreiben. Wir schreiben eine Geschichte, alle zusammen. Jeder was er will und so viel er will – einen Absatz, einen Satz oder zwei, ein ganzes Kapitel, egal.

Was für eine Geschichte es werden soll? Keine Ahnung. Vielleicht ein Thriller, ein Liebesroman, ein Märchen? Vielleicht wird es auch eine Mordsmysteryzombieapokalypsenlovestory, vielleicht eine poetische Tierfamilienrealitysaga? Man weiß es nicht. Was aber jetzt schon sicher ist: Es wird ein Abenteuer. Für die, die schreiben, und für die, die lesen.

SO FUNKTIONIERT’S
Ein Schreiberling nominiert den nächsten – und zwar via Facebook. Aufgabe ist es, unmittelbar an den Text des Vorgängers anzuschließen. Aufgabe ist es nicht, die Geschichte des Vorgängers genau so weiterzuerzählen, wie der es gemacht hätte.

Jeder Schreiber nutzt seine Sprache, seinen Stil, seine Fantasie. Und rettet vielleicht Leben, indem er einen Vogel fliegen lässt, der die Nachbarskatze ablenkt, die dann eben doch nicht über die Straße läuft … Oder er lässt den Max der Maria zuzwinkern, was natürlich weitreichende Folgen haben kann. Vielleicht zwinkert Max aber auch nicht, sondern schießt …

Fortsetzung:

Warum jetzt? Nach all den Jahren tauchst du plötzlich hier auf und veranstaltest mit Emily diese kranke Schnitzeljagd.

„Warum jetzt? Nach all den Jahren tauchst du plötzlich hier auf und veranstaltest mit Emily diese kranke Schnitzeljagd.“ Lens Verwirrtheit weicht nun der Wut auf seine Mutter und seine Halbschwester. „Was ist so schwer daran, einfach anzurufen, zu erklären, wo zur Hölle du 20 Jahre lang gesteckt hast und wie es um unser Verwandtschaftsverhältnis steht?“ –
„Aber wo bliebe denn da der ganze Spaß, Bruderherz?“, hört er die vertraute Frauenstimme hinter sich, während ihn seine Mutter belustigt beobachtet. Wo der Spaß darin besteht, auf den Gefühlen eines Familienmitglieds herumzutrampeln – sei es nun blutsverwandt oder nicht –, weiß wohl nur Emily Jan, mit der er wohl mehr als nur den Vater teilt, selbst. Aber nach der Geschichte mit den 17 Schornsteinfegern wundert Len aka Jan keine der Abstrusität mehr, die dem Geist seiner Halbschwester entspringt. Halt! Nur nicht schon wieder daran denken …

Da sitzt er nun zwischen den beiden Frauen, die seit seiner Kindheit verlässlich dafür sorgen, dass den Dämonen der Sprudel niemals ausgeht, und fragt sich, wie alt man werden muss, um in dieser Familie ernst genommen zu werden. Genau wie damals vor 20 Jahren, nachdem seine Mutter auf ebendieser Parkbank verkündete, sie hätte eine Sache zu regeln und müsse die Stadt verlassen.
Seitdem sind regelmäßig Briefe von ihr ins Haus geflattert, die zwar stets die Info enthielten, dass sie noch am Leben sei, jedoch keinerlei Hinweise auf ihren Aufenthaltsort. Vor zwei Monaten hat Len den letzten erhalten. „Sei bereit!“ stand in ihrer, für seinen Geschmack viel zu verschnörkelten Schrift auf dem hellblauen Blatt Papier, mit dem diese absurde Jagd nach der Wahrheit begann.

Genug mit euren Spielchen! Mama, wo warst du die letzten 20 Jahre? Was hat es mit dieser Strafvollzugsanstalt auf sich? Was ist in Zimmer 164b passiert?

Nun hat Len aber keine Lust und keine Kraft mehr, irgendwem oder irgendetwas wie wild hinterherzujagen und doch immer eine Schrittlänge zu langsam zu sein. Er will Antworten! Er will sie alle und er will sie sofort! „Genug mit euren Spielchen! Mama, wo warst du die letzten 20 Jahre? Was hat es mit dieser Strafvollzugsanstalt auf sich? Was ist in Zimmer 164b passiert? Warum Maélys?“ Unter Tränen presst er die letzte Frage zwischen seinen Lippen, die in seiner Wut nur noch zwei schmale Striche bilden, hervor: „Warum quält ihr mich so?“

„Beruhige dich, Brüderchen!“ Wie sehr er es hasst, wenn Emily in diesem mitleidigen Tonfall mit ihm spricht. Als wäre er noch immer der kleine Dummkopf, der am Schulhof wieder mal einen saftigen Bauchplatscher in eines der vielen Fettnäpfchen gemacht hat, die ihm sein Leben in den Weg stellt und Trost bei der großen Schwester sucht. Er braucht sie aber nicht mehr. Was bildet sie sich ein? Mit 47 Jahren ist ein Mann wohl in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen. Seine großgewachsene Halbschwester mit den verspielten, dunklen Locken und den tiefen Falten rund um die Augen sieht das allerdings anders: „Es ist alles nur zu deinem Besten, glaub mir. Mama war die letzten Jahre in Finnland…“ „Die ganze Zeit steckt ihr schon unter einer Decke?“ „Ja, Len. Emily wusste von Anfang an Bescheid.“ „Als dann deine angebliche Großcousine aus dem Nichts aufgetaucht ist und dich dazu überredet hat, sie nach Helsinki zu begleiten, war uns klar, dass wir handeln mussten,“ fährt Emily fort. „Was heißt ,angebliche‘ Großcousine? Habt ihr etwas mit diesem mysteriösen Anruf aus St. Petersburg und ihrem Verschwinden zu tun?“ „Es musste sein, Len, sie musste untertauchen“, fährt Emily fort. „Nur so werden wir deine biologische Mutter finden.“

Wo ist das Ende dieses verdammten Labyrinths? Wo beginnt die Wahrheit?

Len aka Jans Gehirn windet sich beim Sortieren seiner Gedanken wie ein Fisch in einem Netz der finnischen Fischer, die er mit Luzia beobachtet hat. Zumindest fühlt es sich so an. Jeder Zentimeter zwischen seinen Ohren schmerzt. Wo ist das Ende dieses verdammten Labyrinths? Wo beginnt die Wahrheit?

„Hör zu“, will Emily zu weiteren Beschwichtigungen ansetzen, sie wird aber von ihrem Halbbruder aufgebracht unterbrochen: „Was interessiert es dich überhaupt, wer mich auf die Welt gebracht hat? Hast du nicht schon genug in meinem Leben herumgepfuscht?“ – „Diese Frau ist auch meine Mutter, Len.“

von KATRIN RATH

SO FUNKTIONIERT’S
Ein Schreiberling nominiert den nächsten – und zwar via Facebook. Aufgabe ist es, unmittelbar an den Text des Vorgängers anzuschließen. Aufgabe ist es nicht, die Geschichte des Vorgängers genau so weiterzuerzählen, wie der es gemacht hätte.

Jeder Schreiber nutzt seine Sprache, seinen Stil, seine Fantasie. Und rettet vielleicht Leben, indem er einen Vogel fliegen lässt, der die Nachbarskatze ablenkt, die dann eben doch nicht über die Straße läuft … Oder er lässt den Max der Maria zuzwinkern, was natürlich weitreichende Folgen haben kann. Vielleicht zwinkert Max aber auch nicht, sondern schießt …

ÜBER DIE KETTENBRIEF-SAGA
Wir Journalisten, Kolumnisten, Autoren, Dichter, Denker und Schreiberlinge tun was. Und zwar das, was wir am besten können – schreiben. Wir schreiben eine Geschichte, alle zusammen. Jeder was er will und so viel er will – einen Absatz, einen Satz oder zwei, ein ganzes Kapitel, egal.

Was für eine Geschichte es werden soll? Keine Ahnung. Vielleicht ein Thriller, ein Liebesroman, ein Märchen? Vielleicht wird es auch eine Mordsmysteryzombieapokalypsenlovestory, vielleicht eine poetische Tierfamilienrealitysaga? Man weiß es nicht. Was aber jetzt schon sicher ist: Es wird ein Abenteuer. Für die, die schreiben, und für die, die lesen.