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Als die Königin auf die Trümmer unseres einst stolzen Hügels stieg und ihr dünnes, ungeübtes Stimmchen erhob, wehten ihre Worte federleicht über uns hinweg, was in Anbetracht der Situation absurd war.

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Wir standen aufgefädelt, dicht an dicht. In einer sich endlos windenden Spirale, die die zerfurchte Erde unter unseren Füßen lückenlos überzog, was von oben aussehen musste wie ein vibrierender Panzer.

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Die Königin ragte vor uns auf. Sie hielt die Augen geschlossen, wohl um sie vor dem Tageslicht zu schützen. Ihr praller Körper glänzte in der Sonne, als wäre er aufpoliert.  

Ich war zwischen hunderttausenden galoppierenden Herzen eingepfercht und spürte den Rhythmus durch ihre Körper rasen. Tocktocktocktocktocktocktock pochte es vor mir, pochte es hinter mir, pochte es neben mir. Meinem Herzen konnte der Anblick der Königin nicht imponieren. Tock, tock, tock schlug es gleichmäßig, als wäre nichts. 

„Wir dürfen nicht undankbar sein“, sagte die Königin, die ihre Gemächer unter der Erde so gut wie nie verließ, „unsere Stadt haben sie diesmal zwar zur Gänze zerstört, aber sie haben uns reichlich Vorräte dagelassen.“ Rund um mich nickten alle synchron. Ich hielt meinen Kopf gerade. Als Nächstes würde die Königin sagen, dass nun die Zeit gekommen wäre, die Stadt und den Hügel woanders neu aufzubauen. Ich unterdrückte ein Gähnen.

Mein Leben war ernüchternd vorhersehbar. Es bestand aus schuften und sich abrackern. Bis zu dem Tag, an dem wir umfielen, vergraben wurden und vergessen waren. Niemand von uns war etwas Besonderes. Eine Ameise glich der anderen. Wir waren Massenware.

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Und trotzdem hatte sie sich bei mir eingenistet – die Sehnsucht. Ausgelöst durch zwei alte Leute, einen Mann und eine Frau, die Jahr für Jahr unter dem Olivenbaum mit dem eingeritzten Herzen saßen, ihre Köpfe an den Stamm lehnten, aßen, tranken, lachten, tanzten.

Wir waren darauf vorbereitet, dass sie jedes Mal, wenn sie ihre Decke auflegten, unseren Hügel zerstörten. Sobald wir ihre Stimme hörten und der Boden unter ihren Schritten zitterte, liefen alle in das Innere des Baus. Ich nicht. Ich sah ihnen zu, wie sie um ihr Leben rannten. Tiefer und immer tiefer hinein in die Erde.

Es deutete nichts mehr darauf hin, dass der Hügel die Kuppel einer Ameisenstadt war. Man konnte dem Mann und der Frau keinen Vorwurf machen, fand ich.

Ich liebte sie. Nicht nur wegen ihrer Delikatessen, die uns zu Wohlstand und Reichtum verhalfen. Die Sehnsucht nach Freiheit und nach etwas Großem war es, die sie in mir weckten. Wenn aus dem Kofferradio Musik drang und der Mann die Frau herumwirbelte, wenn sie ihre Lippen auf seine faltige Wange drückte und er ihr über den Rücken strich, dann bedauerte ich es, eine Ameise zu sein. Eine Befehlsempfängerin. Eine Gefangene.

Mein Leben war in seinem letzten Drittel, mein Rücken krümmte sich, meine Füße waren plattgelaufen. Bald würde eine andere meinen Platz einnehmen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.

Die Gelegenheit, sie tat sich auf, als das Unvorhergesehene passierte.

Die Menschen hatten diesmal einen Sonnenschirm mitgebracht, den sie schwungvoll in die weiche Erde rammten. Der Stiel durchbohrte unsere Vorratskammern und Teile der Brutstätten. Wie ich es vorhergesag­­t hatte, befahl uns die Königin unverzüglich mit dem Bau eines neuen Hügels, fernab jeden Baumes, zu beginnen.

Mitten unter den Arbeiten tauchten der alte Mann und die alte Frau wieder auf. Sie suchten weitläufig mit bekümmerten Gesichtern auf allen vieren kriechend den Boden ab. Meine einfältigen Artgenossinnen verschanzten sich.

Die Frau weinte. Der Mann schnäuzte sich in ein Stofftaschentuch. „Wenn wir wieder zuhause sind, lassen wir einen neuen anfertigen“, sagte er. „Das ist nicht dasselbe“, antwortete sie, „vielleicht ist es ein schlechtes Zeichen. Ein Vorbote für ein Unglück.“ Der Mann schüttelte den Kopf. Er küsste sie auf den Scheitel. Die Frau ließ die Schultern hängen. Erst als die Sonne unterging, brachen die beiden die Suche ab.

Ich suchte weiter. Es erregte mich, etwas zu tun, das mir niemand befohlen hatte. Ich tat es, weil ich es wollte. Nacht für Nacht durchforstete ich den Boden.

Bis ich ihn endlich fand, an die trockene Blüte einer Distel geschmiegt, als wäre er ein Teil von ihr: den goldenen Ring, den die Frau wahrscheinlich beim Tanzen verloren hatte.

In einem Jahr würden sie zurückkommen. Sie mussten ihn wiederbekommen. Von mir. Ich versuchte den Ring hochzustemmen. Zwecklos.

Aber wenn er fliegen könnte … bis zum Baum mit dem Herzen … der stand ganz nah … das müsste doch … den Kopf der Distel hinunterbiegen … den Ring wie ein Wurfgeschoß gegen den Baum katapultieren … Ja!

Ich berechnete Flughöhe, Flugdauer, Abschuss und Landung. Während des Tages arbeitete ich als Ameise unter Tausenden, nachts arbeitete ich an etwas Großem, nur ich.

Es wurde Herbst, es wurde Winter. Raureif überzog den Ring.

Ich spürte meine Kräfte schwinden. Meine Kolonie versammelte sich an der tiefsten Stelle des neuen, noch unfertigen Baus und verfiel wie jeden Winter in eine Kältestarre. Ich wusste, dass im Frühjahr niemand nach mir suchen würde, sah zu, wie die Wachen die Schotten zur Außenwelt dicht machten und fühlte, wie leicht mein Herz wurde.

Stille legte sich über das Land. Zum ersten Mal war ich frei. Ich fing an aus Blätterstielen, Nadeln und weichen Ästen ein Seil zu flechten, mit dem ich den Kopf der Distel nach unten ziehen wollte. Verrückt, dachte ich, wenn meine Augen vor Müdigkeit tränten und sich die Kälte in meinen Gliedern festsetzte.

Es wurde, gottlob, wieder warm. In der Ferne sah ich den neuen Hügel meiner ehemaligen Kolonie in die Höhe wachsen. Ich erinnerte mich nicht daran, wie es gewesen war dazuzugehören.

In dieser Nacht setzte ich das Wurfgeschoß in Gang. Es knackte und ächzte im Stängel der Distel, als ich ihn zu mir herunterbog. Durchhalten. Ich ließ das Seil los, und der Ring flog in einem perfekten Bogen exakt auf der von mir berechneten Bahn auf den Baumstamm zu, wo er sanft von einem Ästchen aufgefangen wurde.

Toktoktoktoktok vollführte mein Herz einen Freudentanz. Mein Körper zitterte vor Anstrengung.

Langsam, als fühlte ich, dass meine Kräfte nur noch für diesen letzten Weg reichen würden, kroch ich den Stamm hinauf und ließ mich, oben angekommen, in den Ring fallen. Der Tag brach gerade an, ein milder Wind blies. Der Ring schaukelte mich sachte, meine Glieder lagen entspannt auf dem Metall, das sich unter der Sonne erwärmte. Ich war zu müde, um die Augen noch einmal zu öffnen.

Aber ich hörte sie. Den Mann und die Frau. Sie kamen näher, die Picknickdecke raschelte, das Kofferradio knackste, hub an Musik zu spielen. Der Duft von gebratenem Fleisch, Erdbeeren und Brot zog zu mir hinauf. Mmmmmmhhhhh. Ich schaukelte. Hin und her. Tooock........... Tock, tock, toooock..... Mein Herzschlag setzte immer wieder aus. Wach bleiben. Die Musik wurde lauter. Ich konnte ihr Lavendel-Parfum riechen, als ihr Haar beim Tanz an mir vorbeiwehte. Und plötzlich hielten sie inne.

Fredi!, rief sie, schau mal, was da hängt. Das gibt es doch gar nicht.  

„Das ist unmöglich. Eva! Ein Wunder!“, sagte er. Und pflückte den Ring vom Baum. Mein Körper fiel heraus und ich segelte ins Sonnenlicht. Lächelnd. Adieu.

T...o...ck...          ein letztes Mal.