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Der weltbekannte Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, „der wohl größte lebende Österreicher“ (Alt-Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, 1994), hat die Suche nach Sinn als seelische Urkraft im Menschen entdeckt. Die von ihm entwickelte Logotherapie und Existenzanalyse, die Dritte Wiener Schule der Psychotherapie nach Sigmund Freud und Alfred Adler, ist eine Sinnlehre gegen Sinnleere von zeitloser Aktualität. Frankl lebte von 1905 bis 1997. Bis heute beeinflusst sein geistiges Vermächtnis das Weltbild der Menschen und das Menschenbild der Welt.

Es gibt viele Gründe, Viktor Frankl einen Beitrag zu widmen. Zunächst einmal jene, die mit ihm selbst zu tun haben: Einer der wohl bedeutendsten Österreicher, weltweit prägend für unser Verständnis der menschlichen Seele, für ihre Motivationen und ihre ungebrochene Sehnsucht danach, dem Leben Sinn zu verleihen. Einer, der über Resilienz forschte, lange bevor es zum Modewort wurde. Einer, der das Lebensglück ins Zentrum seines Menschenbildes stellte – lange bevor andere Psychiater einen Gedanken daran verschwendeten.

Und dann wären da noch: Verständnis für die menschliche Seele zum Beispiel. Die Sehnsucht, dem Leben einen Sinn geben. Resilienz. Lebensglück. Wo es viele Gründe gibt, freut man sich über einen Anlass. Ehrlich, wir hätten fast jeden genommen. Aber nun wurde es dieser: Ende letzten Jahres ist mit „Berg und Sinn“ ein neues Buch erschienen, das Viktor Frankl nicht als Arzt, sondern als Bergsteiger porträtiert. Ein Kapitel daraus stammt von seiner berühmten Schülerin Elisabeth Lukas, der es auf wundervolle Art gelingt, den Bogen von Frankls Kletterpassion zu seiner Lehre zu spannen. Mit ihrer freundlichen Genehmigung dürfen wir es hier abdrucken.

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Frankls Menschenbild

Genies sind nicht von Geburt an Genies. Sie entwickeln sich im Laufe ihres Lebens dazu. Wobei es nicht ihre Entwicklungsumstände sind, die sie zu Genies machen, sondern vielmehr ihr persönliches Geschick darin besteht, ihre jeweiligen Entwicklungsumstände auf konstruktive Weise zu nützen.

Bei Viktor E. Frankl gab es eine Menge Entwicklungsumstände, die ihn bei seiner Karriere als begnadeter Seelenarzt enorm hätten behindern können. Häusliche Armut, schmächtiger Körperbau, Antisemitismus, Wirtschaftsflaute und nicht zuletzt zwei dramatische Weltkriege überschatteten die erste Hälfte seines Lebens – und das ist eine lange Zeit. Doch Frankl schöpfte gerade aus diesen Faktoren Erkenntnisse, die sich für die Wissenschaftslehre der Psychotherapie als bahnbrechend erweisen sollten. Es gelang ihm nachzuweisen, dass der Mensch in jedem bewussten Augenblick aktiver Mitgestalter seiner Umstände und nicht bloß deren passives Opfer ist – und dass er daher stets eine Wahl hat, wie er mit seinen jeweiligen Lebenssituationen umgeht. Je sinnvoller solche Wahlen sind, je weltoffener und verantwortlicher er sie trifft, desto besser glückt sein Leben. Frankl richtete den Akzent, der von ihm begründeten Therapierichtung „Logotherapie“ darauf aus, ratsuchende und in Konflikte verstrickte Menschen zu sinnvollen Wahlen zu motivieren.

Frankls „Gebirgsinspirationen“

Es kann schon sein, dass die Leidenschaft des jungen Frankl für das Bergsteigen und Klettern ihn zu seinen Theorien inspiriert hat. Hoch oben in den Felsen entscheidet jeder einzelne Schritt und Tritt, jede einzelne Handbewegung über den Fortgang des Unternehmens. „Sinnvolle oder weniger sinnvolle Wahlen“ sind Herren über Leben und Tod. Sich auf missliche Umstände wie glatte Wände oder schlechtes Wetter auszureden nützt dem Kletterer gar nichts. Gefährliche Gletscherspalten, Stürme und Kälte sind eben sorgfältig einzukalkulieren, und Risiken sind rechtzeitig zu minimieren. Die Frage, ob eine bestimmte Tour für eine bestimmte Person sinnvoll ist oder nicht, muss mit Vernunft und Gewissen verhandelt werden. Es ist nicht viel anders als im normalen Alltag, nur steht mehr auf dem Spiel. Aber auch inmitten unserer täglichen Routine muss immer wieder neu entschieden werden, was jetzt gerade zu tun oder zu unterlassen ist, was der Augenblick von uns verlangt. Wer sich dem verwehrt, stürzt leicht ab ...

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Kritik des Psychiaters an Sigmund Freud

Es ist kein Wunder, dass der junge Frankl in den frühen 1920er-Jahren von den Thesen Sigmund Freuds, dem damaligen „Psychotherapiepapst“, abgerückt ist, obwohl dieser die Begabung Frankls erkannt hat und ihn zu fördern geneigt war. Doch zwischen beiden, dem alternden und dem aufstrebenden Genie, stand der Pandeterminismus wie ein unüberbrückbarer Abgrund. Für Freud gab es praktisch weder freie Wahlen noch Sinn. Die Qualität der erlebten Kindheit und Triebgeschichte determinierte Freuds Meinung nach eines Menschen Schicksal, und „wer nach Sinn fragte, war seelisch krank“. Es klang, als würde man behaupten, dass der Aufbruch eines Bergsteigers Allmacht habe über dessen weiteren Weg und es folglich illusorisch wäre, nach passenden Routen zu suchen. Die Startvariablen würden den Bergsteiger unweigerlich einholen. Dem widersprach Frankl vehement. Schlechte Ausgangsbedingungen sind zwar bedauerlich, so Frankl, aber in fast jedem Hier und Jetzt kann der bedächtige Bergsteiger noch eine Route finden, die ihn an das Ziel beziehungsweise heil nach Hause bringt.

Frankls Konzept zur Angstbewältigung

Frankl entwarf das Menschenbild des „unbedingten Menschen“, der seinen Bedingungen trotzen kann, wenn es nottut. Wohlgemerkt: kann und nicht muss. Zum Beispiel war es bezüglich Frankls Höhenangst klug, ihr Widerstand zu leisten. Hätte er sie wuchern lassen, hätte sie ihm viele vergnügte Stunden in seinen geliebten Bergen verdorben. Sie hätte ihm schöne und triumphale Erfahrungen geraubt und sein Leben beschwert. Solche unnötigen und einer Sachlage nicht angemessenen Ängste bezeichnet man als „irrational“.

Nicht wenige Menschen leiden unter irrationalen Ängsten, die sich bis hin zu Panikattacken aufschaukeln können. Die Geplagten fürchten ziemlich unwahrscheinliche Bedrohungen, wie in kleinen Räumen zu ersticken, von Spinnen gebissen zu werden, sich auf Partys gruselig zu blamieren, in Kaufhäusern zu kollabieren etc. Frankl erkannte schon sehr bald, dass es wenig hilfreich ist, nach möglichen Ursachen derartiger Überbesorgnisse zu fahnden. Heute weiß man, dass eine bunte Mischung aus Erbmaterial, Umwelteinflüssen und Eigenanteilen daran beteiligt ist. Physisches, Psychisches und Soziales sind dabei eng miteinander vernetzt. Die geistige Person jedoch, Träger all dieser Vernetzungen, kann sich ein Stück weit darüber erheben. Sie kann sich selbst etwas abtrotzen, im Extremfall sogar sich lächelnd vornehmen, den nächsten „Urlaub“ just in kleinen Räumen zu verbringen, Freundschaft mit sämtlichen Spinnen zu schließen, Partygäste mit tollen Narreteien zu unterhalten oder versäumten Schlaf in Form von erholsamen Ohnmachten im Kaufhaus nachzuholen ... Nichts hebt uns so hoch über uns selbst hinaus wie der Humor!

Frankls Sinnbegriff

Allerdings ist keineswegs jede Angst irrational. Viele Ängste wachen schützend über uns, und niemand weiß das besser als die tüchtigen Männer von der Bergrettung, die sich hauptsächlich um jene Leichtsinnigen kümmern müssen, die ihren „rationalen“ Ängsten kein Gehör geschenkt haben. Wenn sich jemand fürchtet, in Shorts und Sandalen ins Gebirge aufzubrechen, dann ist das eine ausgezeichnete Angst, der diese Person wahrlich nicht trotzen sollte. Wenn sich jemand fürchtet, mit einem Kleinkind an der Hand in den Nebel hinauszuwandern, ist Trotz ebenfalls nicht angesagt. Die „Trotzmacht des Geistes“, von der Frankl sprach und die er nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei seinen Patienten erfolgreich zu mobilisieren verstand, bleibt Situationen vorbehalten, die wirklich nach ihr verlangen. Und sie hat schweigend zu warten in Situationen, die Gehorsam, Fügung, Anpassung und Unterwerfung erfordern. Der Skifahrer hat sich der Gewalt „Lawinengefahr“ zu beugen. Die Verletzte hat sich dem ärztlichen Verdikt „Operation unumgänglich“ zu fügen. Wir Menschen kommen an Grenzen, und wo wir sie nicht mutig hinausschieben können, dort haben wir sie demütig zu akzeptieren.

Wer entscheidet aber, ob Mut oder Demut das Gebot der Stunde ist? Ob die Mobilisierung eines heroischen Trotzes oder die schlichte Annahme einer Unerfreulichkeit an der Reihe ist? Der Schiedsrichter ist der Sinn. Nicht irgendein willkürlich ausfantasierter Sinn, den man selbstherrlich nach eigenen Wünschen „machen“ könnte (auch wenn das moderne Schlagwort vom „Sinn machen“ umgeht). Nein, es ist der Sinn, den man nicht erfinden, sondern nur finden kann, weil er in den verschiedenen Lebenskonstellationen verschlüsselt liegt und sich einzig dem ehrlich und gewissenhaft Suchenden erschließt. Als Frankl zu der Überzeugung kam, dass – im Gegensatz zu Freuds Ansicht – „geistig rege und mündig ist, wer nach Sinn fragt“, war der Spatenstich zu seiner sinnzentrierten Psychotherapieform getan.

Umgang mit Stress

Innere Ausgeglichenheit ist zweifellos eine wichtige Zutat im Gepäck jedes Bergsteigers. Losrennen, keuchend dahinstolpern, erschöpft rasten und erneut wild umherirren ist nicht professionell. Leider gleicht ein solcher Modus dem vieler Zeitgenossen, die sich bis zum Burnoutsyndrom verausgaben und dann deprimiert auf der Strecke bleiben.

Frankl war in der zweiten Hälfte seines Lebens gut beschäftigt. Von außen betrachtet könnte man sein Beschäftigungsausmaß sogar als „gigantisch“ definieren. Er leitete die Neurologische Abteilung der Poliklinik in Wien, hatte eine ständige Professur und zahlreiche Gastprofessuren inne, schrieb exzellente Fachbücher, hielt Vorträge im In- und Ausland und war nicht zuletzt ein liebevoller Ehemann und Vater (was bekanntlich auch Zeit kostet). Doch niemals wäre er bei alledem „ausgebrannt“. So wie die erfolgreichen Gipfelstürmer gemächlich und konstant voranschreiten und sich weder ablenken noch total auspowern lassen, so verfolgte Frankl beharrlich seinen Lebenspfad und schuf Stück für Stück ein Werk, das einer „Erstbegehung“ durchaus ähnelt.

Keiner vor ihm ist in solch geistige Höhen der Psychotherapie vorgedrungen. Keiner hat die Seelenheilkunde auf ein philosophisch so anspruchsvolles Niveau gestellt und dem Rivalen versagt. Das ist des Menschen und schon gar des Sportlers nicht würdig, der eigentlich Fairness auf seine Fahnen geschrieben haben sollte. Im Unterschied dazu ist es ein Zeichen von seelischer Reife und Souveränität, einem Gegner den Sieg zu gönnen, wenn er ihn verdient. Überhaupt ist es ein Merkmal charakterlicher Stärke, sich mit dem Glück anderer Menschen mitfreuen zu können und es ihnen nicht heimlich „wegzuwünschen“.

Wer selbstsicher in sich ruht, vergleicht sich nicht andauernd sehnsüchtig mit anderen, denen es eine Spur besser geht als ihm, die eine Wenigkeit mehr besitzen als er, kurz, die ein bisschen mehr „Sonnenseite“ abkriegen als er. Wer ferner gescheit genug ist, vergisst nie, dass es millionenfach andere auf unserem Planeten gibt, die wesentlich schlechter dran sind als er und die ihr Dasein auf der „Schattenseite“ fristen müssen, was traurig genug ist. Vergleiche sind im Prinzip unfruchtbar, weil jeder Mensch auf seine Weise einzigartig und einmalig ist und mit seinen eigenen Trägheiten und Verführbarkeiten zu ringen hat, die ihn in seiner positiven Entfaltung einbremsen könnten, und nicht mit Konkurrenten aus der Nachbarschaft.

Frankls Sportregel Nr.2

Mit Regel Nr.2 wollte Frankl in seiner Eigenschaft als Psychiater das Problem der „Hyperreflexion“ ausleuchten. „Eine Hyperreflexion verunmöglicht das Intendierte“, pflegte er zu sagen. Unter einer Hyperreflexion versteht man ein übermäßiges gedankliches Kreisen um sich selbst und sein Begehr. Im Fall des Sportlers wäre das ein Hängen- und Klebenbleiben seiner Gedanken am einzuheimsenden Sieg. Zahlreiche Studien bestätigen: Je mehr es jemandem um seinen Sieg geht, desto eher versäumt er ihn. Das ist hirntechnisch leicht zu erklären. Hauptteile der zerebralen Energie werden für das verbissene Erzwingenwollen des Sieges eingesetzt und stehen für die Hingabe an die zu bewältigende Aufgabe nicht mehr zur Verfügung. Zusätzlich schleicht sich noch eine vage Ängstlichkeit durch die Hintertüre ein und macht den Betreffenden schlapp. Denn wer um jeden Preis siegen will, der muss vor einer Niederlage zittern.

Die rechte Intention ist unweigerlich mit Selbstvergessenheit gekoppelt. Sie ist auf eine gute Sache gerichtet, auf einen zu verwirklichenden Wert, auf eine geliebte Person, auf einen Beitrag zum Gelingen der Gemeinschaft, der man angehört. Nie ist der Mensch intensiver bei sich, nie freier vom nervösen Geflunker in seiner Seele, als wenn er sich an etwas Größeres verschenkt, als er selbst ist. Etwaige Siege, Erfolge, Belobigungen etc. sind unangestrebte Nebeneffekte selbstüberschreitender Intentionen. Das ist keineswegs nur bei den Sportlern so, das ist ein Generalrezept für uns alle.

„Tragischer Optimismus“

In einem Interview mit Franz Kreuzer, das im Jahr 1986 in der Serie Piper veröffentlicht worden ist, erinnerte sich der damals 81-jährige Frankl an folgende Begebenheit:

„Ich bin einmal durch die Preiner Wand geklettert, und der Gruber-Naz hat mich geführt, und während er dort sitzt und sichert und mich nachkommen lässt am Seil, sagt er: ‚Sind S’ mir net bös, Herr Professor, aber wann i Eana so zuaschau – Sie haben überhaupt ka Kraft mehr. Aber wissen S’, wie Sie das wettmachen durch raffinierte Technik, Klettertechnik. I muaß schon sagen, von Eana kann man klettern lernen.‘ Stellen Sie sich vor, das sagt mir ein Mann, der soeben von einer Himalayaexpedition zurückgekommen ist!“ Ja, das war Frankls Kunst: Das Wettmachen von Unzulänglichkeiten durch überlegene Taktiken. Diese Kunst hat er auch seine Patienten gelehrt, und sie haben es ihm gedankt.

Die meisten von ihnen hatten ein ähnliches Kraftdefizit wie Frankl in der Preiner Wand, nämlich kaum mehr die Kraft, ihr Leben zu bejahen. Sie waren nach üblen Wirrsalen gestrandet, mit Neurosen, Psychosen oder Nervenkrankheiten geschlagen, durch Unfälle ins Elend geraten, aus sämtlichen Haltegriffen herausgepurzelt ... sehr oft verzweifelte Menschen. Das dämpfte Frankls „tragischen Optimismus“ nicht. Er sah in jedem von ihnen eine wertvolle, geistige Person, urwillkommen im Reigen der Schöpfung und fähig, den auf sie wartenden Part mit Bravour zu übernehmen.

Der Text stammt von Elisabeth Lukas und ist aus dem Bergwelten Buch „Berg und Sinn – Im Nachstieg von Viktor Frankl“ von Klaus Haselböck, Mitglied der Bergwelten-Chefredaktion, und Michael Holzer entnommen. Elisabeth Lukas ist Klinische Psychologin in Wien und Dozentin an mehr als 50 Universitäten weltweit. Die Schülerin von Viktor Frankl entwickelte die von Frankl begründete Logotherapie in über 30-jähriger praktischer Arbeit methodisch weiter.