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Sechs Luchse leben in den letzten Urwaldrestflächen der Kalkalpen – wird Christina Geyer auf dem Luchstrail einen von ihnen begegnen? Hier geht’s zum ersten Teil ihres Berichts.

Steiermark. Gesäuse. Etappe 5. Von der Oberst-Klinke-Hütte nach Johnsbach. 18 Kilometer, 900 Höhenmeter. Eine gemütliche Etappe, denke ich bei mir. Und gleich danach: acht-zehn-Ki-lo-me-ter? Gemütlich? Aber ja. Ich bin offensichtlich warmgelaufen. Und nicht nur körperlich. Auch gedanklich. Ich bin zu 100% im Trail-Modus. Das tägliche Gehen und stundenlange Auslüften in der Natur hat sich erstaunlich schnell institutionalisiert. Nach nur fünf Tagen fühlt es sich wie Alltag an. So wie morgendlicher Kaffee oder Zähneputzen. Eben wie etwas, das man gar nicht weiter hinterfragt, weil es ganz einfach schon dazugehört.

Was ich da erlebt habe ist – leider – weniger die wundersame Metamorphose einer Bergwanderin hin zur gestählten Maschine. Der Trail hat keinen Hulk aus mir gemacht – obwohl ich zugeben muss, dass ich mich zuweilen ein bisschen so gefühlt habe. Und ja, ich gestehe – obwohl Selbstüberhöhung nicht besonders sexy ist: Ich fand’s geil. Trotzdem. Kein Hulk. Vielmehr hat mich ein Phänomen in diesen Zustand katapultiert, das dem Schoß der Wissenschaft entspringt. Vier Buchstaben hat es, knackiger Name, so gar nicht wissenschaftlich. FLOW. So heißt das Ding, und ich habe es ab Etappe 3 fast täglich – aber nicht durchgängig – erlebt.

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Mit Bergschuhen in den Flow laufen

Auf die Welt gebracht hat es Flow-Godfather Mihály Csíkszentmihályi, ein Psychologe, der als einer der herausragendsten Wissenschaftler im Gebiet der Glücksforschung gilt. 1975 hat er seine Entdeckung beschrieben und „Flow“ getauft. Geburtshelfer waren Menschen, die eben diesen „Flow“ erlebt haben: Chirurgen, Extremsportler, Künstler. Sie hat Csíkszentmihályi beobachtet und herausgefunden: Am glücklichsten scheint man immer dann zu sein, wenn man produktiv ist und hart arbeitet. Ob mit Pinsel oder Skalpell in der Hand: Das sinnstiftende Tätig-Sein ist der Schlüssel zum Flow-Erleben. Man muss dafür aber nicht zwingend malen oder operieren. Mein Flow-Rüstzeug bestand aus Bergschuhen. Und mit ihnen an den Füßen bin ich direkt in den Flow gelaufen.

Im Flow: Autorin Christina Geyer hat ihn oft erlebt während der Begehung des Luchs-Trails. (Foto: Andreas Hollinger)

Etappe 5: Von der Oberst-Klinke-Hütte nach Johnsbach im steirischen Gesäuse. 18 Kilometer und unsere Autorin fühlt sich wie Hulk. (Foto: Andreas Hollinger)

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Etappe 8. Von Mooslandl nach Palfau. 25 Kilometer, 900 Höhenmeter. Es ist die Etappe mit der längsten Tagesstrecke des Trails. Aber ich, wieder ganz Hulk, lese jetzt in meinen Aufzeichnungen, wie kurzweilig sich der Tag für mich angefühlt hat. Pfff. Fast schon ein bisschen überheblich mutmaße ich, dass ich wohl ganz einfach von der Zeit absorbiert worden bin. Zum Glück gibt es Csíkszentmihályi. Der würde jetzt vermutlich beschwichtigend einwerfen, dass diese Kilometer-Coolness weniger mit Überheblichkeit als mit seiner Entdeckung zu tun hat. Denn letztlich beschreibt der Flow genau das: Man geht restlos in einer Tätigkeit auf. Man wird also wirklich „absorbiert“, ist mental völlig auf das ausgerichtet, was man da eben gerade tut. Man befindet sich in einem Zustand der Vertiefung, der Versenkung, der absoluten Konzentration. Es gibt im Flow nur noch das, was den Motor des Flows zum Schnurren bringt: Die Initialzündung selbst kann – wie in meinem Fall – das Gehen sein, aber eben auch das Operieren, Malen und, ja, beispielsweise auch das Kochen. Anders formuliert: Wenn der Motor erst einmal läuft, dann läuft’s von ganz allein. Zeit als solche existiert nicht mehr – man verliert irgendwie den Bezug zu ihr. Fast so wie wahnsinnige Mathematikgenies, die stundenlang kryptische Formeln zu Papier bringen und irgendwann erstaunt feststellen, dass der Mond schon am schwarzen Himmel steht.

Weltvergessenheit im Moment

Ja, der Flow-Zustand steht so gesehen in enger Verwandschaft zur Hypnose oder Ekstase. Und zwar so eng, dass manche Wissenschaftler ihn schon im Bereich der Trance verorten. Ehe jetzt Bilder einschlägiger Woodstock-Szenen heraufziehen, will ich ein anderes Bild einführen, das mir zur näheren Beschreibung des Flow-Zustands sehr treffend scheint – und um einiges unschuldiger ist als das berauschter Hippies: das völlig in ein Spiel vertiefte Kind, das in absoluter Weltvergessenheit nur auf sein Spiel achtet. Auch das ist ein Flow. Das Rüstzeug des kindlichen Flows ist also ganz einfach nur ein Satz bunter Bauklötze.

Der Flow kennt ganz unterschiedliche Rüstzeuge: Es gibt eben nicht nur einen, sondern eine Vielzahl an Schlüsseln, die das Tor zum Flow-Erleben sperren. Immer jedoch sind diese Schlüssel Ursache und Motor zugleich für den Flow. Es geht um nichts anderes als das, was den Flow hervorruft: das Gehen, Operieren, Malen, Bauklötze-Spielen. Dabei wird kein wirkliches Ziel verfolgt. Also ja, natürlich geht man, um irgendwo auch einmal anzukommen, und man operiert, um zu heilen, man malt, um ein Bild fertigzustellen, und man spielt, um zu gewinnen. Aber im Tun – während des Tuns – zählt nur das Tun selbst. Wenn ich während meines Trails in den Flow gekommen bin, dann bin ich gegangen, um zu gehen – und habe nicht auf die Uhr gesehen, um nachzurechnen, wie lange ich wohl noch unterwegs sein werde. Kurzum:

Das Tun, das zum Flow führt, ist ein Selbstzweck. In anderen Worten Der Weg ist das Ziel.

Der Flow ist aber auch eine Frage von Geduld und Hingabe. Wäre er einfach so jederzeit verfügbar: Himmel, wir hätten lauter Top-Chirurgen und Michelangelos auf dieser Welt. Man muss sich schon einlassen auf das, was unter Umständen zum Flow-Erleben führen kann – manchmal muss man sich sogar brechen lassen.

36 Grad im Schatten, 18 Kilometer in den Beinen. Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich hätte mich in solchen Momenten nicht manchmal gefragt, wann diese elendige Etappe nun endlich ihr Ende finden würde. Aber es hilft ja alles nichts. Ich musste weitergehen, immer weiter, Schritt für Schritt, oft gegen meinen eigenen Willen. Und schwupp – irgendwann war er dann da, der Flow. Er ist nun aber eben kein Knopf, den man drückt. Er will verdient sein. Man muss „reinkommen“, ins Gehen oder Malen oder Operieren, um sich versenken zu können – und den Flow zu provozieren.

Gehen, gehen, gehen. Und manchmal auch: von Stein zu Stein hüpfen. Hier im steirischen Nationalpark Gesäuse. Und wer sagt, dass man in den Flow nicht auch hüpfen kann? (Foto: Andreas Hollinger)

An die Grenzen gehen

Csíkszentmihályi beschreibt, dass Glück „nicht etwas ist, das einfach geschieht. Es ist keine Folge von angenehmen Zufällen.“ Vielmehr erreichen wir einen glückseligen Zustand im Umfeld der Euphorie erst, wenn wir uns intensiv mit etwas befassen, uns einer schwierigen, herausfordernden Aufgabe widmen. Besonders intensive Flow-Erlebnisse konnten so etwa bei Menschen nachgewiesen werden, die bis an ihre persönlichen Grenzen gehen und sich physisch oder psychisch verausgaben. Warum ist das so?

Weil man letztlich überrascht davon sein wird, wozu man in der Lage ist. 2.000 Höhenmeter an einem Tag? Unmöglich? Hm. Nur so lange bis man sich daran versucht – und nicht mehr scheitert. Man wird belohnt: mit einer intensiven Ausschüttung von Glückshormonen. Und der Einsicht, dass man auch schwierigen Aufgaben und großen Herausforderungen gewachsen sein kann. Der Flow hilft uns dabei. Und hey: Wenn man sich dabei auch noch wie ein unbesiegbarer Hulk in Bergschuhen fühlt, finde ich, dass 25-Kilometer-Tagesetappen ihre absolute Berechtigung haben.

Hier geht’s weiter zum dritten Teil „Die Outdoor-Therapie”.