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Von Autorin Julya Rabinovich selbst gelesen:

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Gute Nacht mit carpe diem – Geschichten zum Einkuscheln und Träumen von Wolfgang Wieser gelesen:

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Das Tintenblau des Abends kroch langsam die Häuserwände hinab, sank hinter die Dächer. Das Licht der Stadt hielt dagegen. Im Nachbarzimmer auf der anderen Seite der Wand tönte blechern ein Lautsprecher. Die Straßenbahn lieferte ausgleichende Schärfe, als sie in die Nebenstraße einbog.

Zehn vor acht. Er müsste bald da sein.

Zehn vor acht. Er müsste bald da sein. Sie drehte Musik auf, leise, schöne Musik. Deckte den Tisch festlich mit Lilienporzellan, stellte die Amaryllisblumen in eine hohe Glasvase, alle 58 rot-gestreiften dünnen Kerzen in die Glasur der Tortenoberfläche, für jedes Jahr eine, und dachte dabei an das erste Treffen.

Sie konnte sich so gut an diesen Abend erinnern – warme Sonne zwischen den Schulterblättern, lange Schatten am Kiesweg vor dem Teich.

Sie konnte sich so gut an diesen Abend erinnern – warme Sonne zwischen den Schulterblättern, lange Schatten am Kiesweg vor dem Teich. Müde Familien, die von den Badestellen der Vorstadt zurück radelten. Schlafende Kinder in Plastikfahrradsitzen, deren Köpfe von einer Seite auf die andere pendelten wie Puppenschädel.

Der Park leerte sich. Sie aber blieben noch dort und sahen der Sonne zu, bis sie einen roten Streifen auf das Wasser malte, Goldsprenkel, die sich in Wellen verliefen, und schwiegen angespannt.

Es war klar, dass etwas geschehen musste, aber es geschah nicht.

Es war klar, dass etwas geschehen musste, aber es geschah nicht, und mit jeder Minute angespannten Wartens, das sich wie Strudelteig zog, wurden sie beide nervöser und unsicherer.

Ihre Mutter hatte ihr früher vor dem Schlafengehen ein Märchen erzählt, in denen die Liebenden sich küssen mussten, um dem bösen Wassergott, der unter der Oberfläche hauste, entkommen zu können, und sie mussten es geschafft haben, bevor der letzte Sonnenstrahl das Wasser berührte, sonst wären sie getrennt worden und verloren gewesen. Sie hatte später nach diesem Märchen gesucht und es nirgendwo gefunden. Weder in den deutschen noch in den angelsächsischen Märchen. Die Mutter hatte es wohl erfunden.

Er ließ den Arm wie zufällig an ihrer Schulter herabfallen, auf die warme Haut, die sandig war und nach Sonnenmilch roch.

Sie saßen damals da, sahen dem Versinken der Sonne zu, ein roter Streifen, der über der Teichfläche zerfloss, die ersten Sterne, die im Violett des Abendhimmels aufblinkten, Goldsprenkel auf den Wellen und bald einfallende Dunkelheit, und er ließ den Arm wie zufällig an ihrer Schulter herabfallen, auf die warme Haut, die sandig war und nach Sonnenmilch roch. Sie wendete ihm ihr Gesicht zu, braungebrannte Haut und grüne Augen. Und sie küssten sich. Gerade noch rechtzeitig. Der Anfang.

Und sie küssten sich. Gerade noch rechtzeitig. Der Anfang.

Sie waren so jung gewesen, sie hatten keine Ahnung gehabt, wohin die Zukunft sie führen würde. Zwischen damals und heute lagen viele, viele Jahre und darin Streitereien und Wunden, Küsse und Versprechen, Geduld und Neugier. Sie dachte an sein Gesicht. Jungenhaftes Lachen mit Grübchen in den Wangen. Rötliches Haar, das jetzt grau wurde, und sehr helle Haut, die immer noch zu Sonnenbrand tendierte. Sommersprossen über das Gesicht, den Nacken, die Schultern. In Irland fragten ihn alle Touristen nach dem Weg. Und in Malta fragten alle sie nach dem Weg. Sie hatten oft darüber gelacht. Sie hatten beide einen miesen Orientierungssinn.

Zwischen damals und heute lagen viele, viele Jahre und darin Streitereien und Wunden, Küsse und Versprechen, Geduld und Neugier.

Sie überlegte an diesem Abend, dass sie ihm nie erzählt hatte, woran sie damals eigentlich gedacht hatte: an das Märchen der Mutter, an das Gefühl der Vergänglichkeit und Gefahr und auch an die Hoffnung auf ewige Liebe. Es erschien ihr immer kindisch, ein bisschen lächerlich, und sie hatte es ihm all die Jahre verschwiegen. Wie alle Liebespaare gingen natürlich auch sie alle Stationen ihrer Liebe durch, und er hatte sie schon oft gefragt, woran sie damals gedacht hatte, und sie hatte sich immer herausgeredet.

Sie hatte ihm nie erzählt, woran sie damals eigentlich gedacht hatte an das Gefühl der Vergänglichkeit und Gefahr und auch an die Hoffnung auf ewige Liebe.

Er kam überpünktlich wie immer, umarmte sie in einer Mischung aus zart und ungeschickt wie immer, tat beim Anblick seiner Torte überrascht wie immer. Es waren keine Gäste geplant. Sie feierten alle unrunden Geburtstage zu zweit. Er packte seine Geschenke aus. Eine Reise ans Meer. Wieder zu zweit neben Wellen sitzen und ins Wasser sehen, während die Sonne untergeht. Ein Echo des Beginns, sozusagen das Echo ihres Urknalls damals, vor so vielen Jahren.

Es war vertraut, es war beruhigend, es war, wie es immer war. Gut.

Sie hoben gemeinsam die Sektgläser, Glas klirrte auf Glas, ein schöner hoher Ton. Sie sahen sich in die Augen dabei. Dieselben Augen, grün und grau, die einfach etwas mehr Falten rundherum angesammelt hatten. Sie fand auch ihre gemeinsamen Falten schön. Sie hatten diese Falten in vielen gemeinsamen Erlebnissen gesammelt, diese Falten waren gewissermaßen ihre Jahresringe. Es war vertraut, es war beruhigend, es war, wie es immer war. Gut. Als sie ins Bett glitt, lag er schon mit einem Buch da. Sie nahm es ihm aus den Händen.

Heute erzähle ich dir ein Märchen.

„Heute erzähle ich dir ein Märchen“, sagte sie. Das gehörte nicht zum üblichen Ablauf. Er sah sie durchaus überrascht an und setzte die Brille ab. „Was für ein Märchen denn?“, fing er an. Sie unterbrach ihn. „Das Märchen von den beiden Liebenden, die vor dem schrecklichen Wassergott fliehen müssen.“

„Wieso?“

„Weil das wir sind.“ Er runzelte die Stirn. „Und, sind wir denn dem Bösewicht entkommen? Du scheinst ja mehr zu wissen als ich.“ Sie sagte nichts, sondern legte einfach ihre Lippen auf die seinen.

Die Autorin

JULYA RABINOWICH floh als Siebenjährige mit ihren Eltern aus der damaligen UdSSR nach Wien. Nach ihrem Studium fasste sie als Autorin rasch Fuß. Ihre Bücher „Spaltkopf“ (2008), „Herznovelle“ (2011) und „Dazwischen: Ich“ (2016) wurden mehrfach ausgezeichnet. Ihr zweiter Jugendroman „Hinter Glas“ ist im März bei Hanser erschienen.