So entdeckst du dein eigenes Talent
Talent – was ist das eigentlich? Was bringt es und wozu brauchen wir es? Ein Interview aus zwei Perspektiven, die besser nicht sein können.
Rebekka ist Philosophin, Adam ist Psychologe. Wir haben die beiden via Zoom an einen (virtuellen) Tisch gesetzt und zu einem Thema befragt, das ihnen ein Anliegen ist: Talent. Es wurde ein Gespräch über Kant und die Welt, über Amy Winehouse und Fußball – und vor allem ein Plädoyer dafür, endlich nicht mehr beleidigt zu sein und als Menschen näher zusammenzurücken.
Okay, zuerst die Grundlagen: Was ist überhaupt Talent?
Rebekka: „Das Wort kommt aus dem Griechischen. In der ursprünglichen Bedeutung war es eine Gewichtseinheit. Das finde ich interessant, denn es hatte noch gar nichts mit den Dingen zu tun, die wir heute mit Talent assoziieren: mit Kreativität oder mit Intellekt.“
carpe diem: Ein „Talent“ – das war doch im Altertum so etwas Ähnliches wie ein Kilogramm?
R: „Genau. Und erst im Neuen Testament beginnt sich diese Bedeutung zu wandeln. Dort ist es ein Geschenk Gottes – und zwar ein Geschenk, das sich auf deinen Geist, deine mentalen Fähigkeiten bezieht. Ist das nicht spannend – dieser Wandel von einem sehr konkreten Gewicht zu so einem diffusen, geistigen Etwas? Das hat in der Bibel auch eine spirituelle, fast magische Ebene. Auf Englisch kennen wir ja auch das Wort gift, also Geschenk, für ‚Begabung‘ – und darin steckt auch im Deutschen das Wort ‚Gabe‘.“
Talent ist keine Frage der Gene, sondern eine Frage der Chancen.
Adam Yearsley, Wien
Adam: „Ich verwende gerne das Wort ‚Stärken‘. Die Frage nach dem persönlichen Talent lautet: Was sind meine Stärken? Philosophie ist natürlich eher dein Fachgebiet, Rebekka, aber auch für mich steht am Beginn eine ganz grundlegende philosophische Entscheidung, nämlich: Sehe ich mein Talent in Relation zu mir selber? Also: Was ist der beste Teil von mir? Oder sehe ich mein Talent in Relation zu allen anderen? Also: Was kann ich besser als du? In unserem Schulsystem spielt eindeutig der Vergleich mit anderen eine Rolle. Da geht es nicht um deine persönliche Entwicklung, die Schüler werden am Durchschnitt der Mitschüler gemessen.
Für mich steht dagegen das Individuum im Mittelpunkt. Wie kann sich jeder einzelne Mensch für sich weiterentwickeln und seine Talente finden Vergleiche interessieren mich nicht, denn was zieht man zum Vergleich heran? Bin ich ein talentierter Redner? Ja, bin ich – aber nicht im Vergleich zum Dalai Lama. Bin ich ein guter Sänger? Klar – aber nicht so gut wie Elvis.
Du siehst: Es bringt nichts, sich dauernd mit anderen zu vergleichen. Deshalb geht es bei Talent für mich immer darum, zu verstehen, worin ein Mensch wirklich gut ist und wie er daran persönlich wachsen kann.“
R: „Das sehe ich auch so. Wer Talent mit Vergleichen in Exceltabellen erfasst, killt die Magie, die darin steckt. Aber man darf auch nicht vergessen, in welcher Welt wir gerade leben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Erfolg das höchste Gut ist. Es geht tatsächlich nur um Ratings oder Rangordnungen. Dem hat sich das persönliche Talent unterzuordnen. Das finde ich gefährlich und schade.
Nur in Freiheit kann sich Talent zeigen.
Rebekka Reinhard, München
Deshalb bin ich da ganz bei dir, ich breche ebenfalls eine Lanze für den Individualismus! Nur mit einer Einschränkung: Talent hat auch etwas mit Resonanz zu tun. Wenn dein Talent kein Echo in der Welt erzeugt, wenn du es nicht kommunizieren kannst, dann bist du ein Monolith. Du kannst dir dann zwar denken: ‚Ich bin talentiert! Ich bin ein Genie!‘ – aber was bringt’s, wenn du es nicht teilen kannst? Teilen ist ein wichtiger Aspekt von Talent.“
A: „Gutes Beispiel! Der Unterschied zwischen einem Genie und jemandem, der für verrückt gehalten wird, liegt einzig und allein darin, wie sehr die Menschen das wertschätzen, was er tut. Das Strickmuster dahinter ist oft gleich.“
carpe diem: Bin ich denn moralisch verpflichtet, mein Talent mit der Welt zu teilen?
R: „Ich denke schon. Immanuel Kant würde sagen: Wenn du die Möglichkeit hast, etwas zu tun – zum Beispiel, jemandem zu helfen –, dann hast du auch die Verpflichtung dazu. Denn wozu wären wir sonst auf der Welt? Wollen wir nur unserem Ego dienen und Geld verdienen? Oder wollen wir etwas beitragen?“
carpe diem: Gut, wenn ich meinem Talent ein Mittel gegen unheilbare Krankheiten finde, dann trage ich etwas bei. Aber, wenn mein Talent einfach darin besteht, gut Fußball zu spielen, scheint mir das nicht unbedingt eine moralische Verpflichtung ...
R: „Aber dein Fußballspiel kann andere inspirieren, auch diesen Sport zu erlernen. Es kann anderen Hoffnung geben oder – manchmal darf es ja auch ganz banal sein – schlichtweg Spaß machen, dir beim Match zuzusehen. Ich komme gerne auf die alten Griechen zurück: Talent hat immer auch zu tun mit dem Schönen, dem Wahren und dem Guten. Tut mir leid, ich bin sehr idealistisch.“
Du musst dich inspirieren lassen, um andere inspirieren zu können.
Rebekka Reinhard
A: „Gut so. Die Welt braucht mehr idealistische Menschen. Ich finde das ist auch ein spannender Aspekt: Talent ermöglicht dir, großartige Dinge zu tun. Die Frage ist: Sollst du dein Talent immer in den Dienst anderer stellen oder nur für dich selbst nutzen?
Was wir Psychologen in den letzten Jahren beobachten können, ist eine Art Wertewandel: Wir leben in einer Zeit des Narzissmus. Wenn man sich aber ansieht, in welchem Zustand die Welt ist, dann wären wir eigentlich an einem Punkt angelangt, an dem Menschen mehr füreinander da sein müssten als je zuvor – anstatt fortwährend beleidigt auf alle anderen zu reagieren.
Ist es also meine Pflicht, mein Talent zu nutzen? Nun, ich denke, es ist unsere Pflicht, einander zu unterstützen und Empathie zu zeigen. Selbstverwirklichung um der Selbstverwirklichung willen – davon hat keiner etwas. Aber wenn dein Talent der Gesellschaft hilft, ist das großartig. Wenn es also darum geht, unser Talent, unsere Stärken zu entwickeln, warum dann nicht jene Aspekte fördern, die uns mit anderen verbinden? Denn alleine kann keiner etwas ändern. Dazu braucht man immer auch andere.“
R: „Das ist es, was ich mit Resonanz gemeint habe.“
carpe diem: Wie finde ich heraus, was mein besonderes Talent ist?
R: „Du spürst es. Es juckt dich in den Fingern, du möchtest Klavier spielen lernen. Und dann ist da diese Leichtigkeit – leggerezza nennen es die Italiener. Manchmal tust du etwas und gerätst dabei in einen Flowzustand. Das ist ein guter Hinweis darauf, dass du für etwas Talent hast. Und der Rest hat viel mit Ausprobieren zu tun, mit Herausfinden, wie du dich am besten ausdrücken kannst.“
A: „Das Leben zu schmecken bedeutet, die unterschiedlichsten Dinge zu versuchen und zu spüren, welche davon dir ein Gefühl von Sinn schenken, welche dir gut von der Hand gehen oder Spaß machen. Als Psychologe kann ich ja ganz pragmatisch an die Sache herangehen: Du kannst einen Persönlichkeitstest machen wie zum Beispiel wingfinder.com, der dir deine Vorlieben aufzeigt und dein künftiges Verhalten prognostiziert ...
Aber das Wichtigste ist tatsächlich: alles probieren – und dir Zeit zum Reflektieren nehmen. Du kannst nämlich durchs Leben gehen und einfach planlos Dinge tun. Oder du gehst durchs Leben, und während du Dinge tust, überlegst du: Was daran mag ich besonders gern? Was erfüllt mich oder hilft anderen? Wenn du beginnst, dein Leben durch diese Linse zu betrachten, werden dir rasch Aufgaben ins Auge springen, die deinen persönlichen Stärken und Talenten entsprechen.“
Warum nicht jene Aspekte fördern, die uns mit anderen verbinden?
Adam Yearsley
carpe diem: Bleibt mein Talent von Geburt an gleich? Oder kann es sich auch erst später zeigen, kann ich zum Beispiel mit dreißig mein Talent als Pianistin entdecken?
A: „Talent ist ein Aspekt von Persönlichkeit. Und die Persönlichkeit eines Menschen ist gemeinhin sehr konsistent. Deine Talente sind wie Flussläufe in deinem Gehirn: Sie fließen schon in sehr jungen Jahren. Aber erst, wenn du sie nutzt, werden sie breiter, sie fließen schneller – die neuronalen Verbindungen werden gefestigt.
Allerdings gibt es auch ganz schön viel Neuroplastizität im Gehirn. Das beginnen wir erst seit etwa fünfzehn Jahren so richtig zu verstehen. Das heißt, wir haben zwar die gut etablierten neuronalen Verbindungen für unsere Talente, aber nichts ist unveränderlich. Und ganz sicher ist Talent nicht genetisch festgeschrieben.
Der wichtigste Faktor beim Verlieben ist der Ort. Denn du kannst dich nur in Menschen verlieben, die sich am selben Ort befinden – und sei es im Internet. Dasselbe gilt für dein Talent und deine Fähigkeiten. Du kannst nur in einer Sache besser und besser werden, die du irgendwann einmal begonnen hast – und dein Talent macht dir das Beginnen leichter. Der Rest ist dann üben, üben, üben.“
carpe diem: Macht Talent glücklich?
R: „Ich denke, Talent trägt dazu bei, ein Leben zu führen, das mit Sinn erfüllt ist – sehr allgemein gesprochen. Aber da gibt es noch den Aspekt des Strebens. Jeder talentierte Mensch verspürt einen inneren Antrieb, sein Talent zu entwickeln. Das hat aber auch eine dunkle Seite. Denk nur an talentierte Künstler wie Amy Winehouse, die brennen für ihr Talent.
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Wenn du Talent hast, gibt es immer das Bedürfnis, zu fliegen. Fliegst du zu hoch – wie Ikarus –, verbrennst du. Und ein kleiner Funke von diesem Streben steckt wohl in jedem begabten Menschen.“
A: „Wir wollen alle wachsen, besser werden – das ist ein biologischer Überlebensmechanismus, denn so lernen wir, uns an Situationen anzupassen. Außerdem: Eine Herausforderung erfolgreich zu meistern ist ein Lustgewinn. Also suchen wir permanent nach dieser Lust.
Und wir definieren uns stark über die Aufgaben, in denen wir glänzen. Wir versuchen alle herauszufinden, wer wir eigentlich sind – und da helfen uns bewältigte Aufgaben ganz gut als Platzhalter für eine Antwort aus: ‚Wenn ich das gut mache, dann bin ich dieses oder jenes.‘ – So vermischt sich unser Platz in der Welt immer mehr mit den Aufgaben, die wir tun. Das ist problematisch: Wenn mein Glück davon abhängt, immer neue Aufgaben zu finden – und Aufgaben gibt es natürlich unendlich viele –, kann ich dann jemals glücklich sein? Da geht’s – wie meistens – um Balance. Wissen, wann es genug ist und wann man andere Wege zum Glück suchen sollte ...“
R: „Und wann es darum geht, bescheiden zu sein. Wir müssen auch nicht ständig ‚aussenden‘, wir können es auch einmal zulassen, zu empfangen, aufzunehmen. Du musst dich inspirieren lassen, um andere inspirieren zu können.“
carpe diem: Hat jeder Mensch ein Talent? Oder gibt es auch Menschen, die völlig talentfrei sind?
R: (Lacht.) „Ja, viele. Das ist so eine Obsession unserer Zeit, dass jeder ein Talent haben muss, jeder muss erfolgreich sein ...“
A: „Also ich sage: Jeder hat ein Talent. Ein Talent, das den Einzelnen weiterbringt und wachsen lässt. Heißt das, wir sind alle Weltklasse? Natürlich nicht. Es wäre größenwahnsinnig, das zu glauben. Aber es geht um unsere Reise als Menschen, darum, immer den nächsten Schritt zu tun. Egal wie klein die Schritte sind. Hauptsache, es sind deine Schritte. Wachse, erkunde ...“
carpe diem: Aber um zu wachsen, brauche ich auch ein Umfeld, das das ermöglicht ...
R: „Da fällt mir der Befähigungsansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum ein: Du kannst als Mensch nicht wachsen, wenn du nicht ein paar grundlegende Voraussetzungen hast – eine finanzielle Basis, Gesund- heit ... Das sollten wir nicht vergessen.“
A: „Teil meines Jobs ist es, Unternehmen dabei zu helfen, die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter besser zu verstehen. Was motiviert sie, was brauchen sie, um jene Qualitäten zu entwickeln, die dann wiederum für die Firma wertvoll sind? Im Grunde sind das vier Qualitäten:
- 1. Intelligenz,
- 2. Kreativität und Neugierde – denn es wird immer Probleme geben, die zu lösen sind. Da hilft ein Forschergeist und die Fähigkeit, zu hinter- fragen.
- 3. Antrieb und Motivation und
- 4. zwischenmenschliche Skills, denn kein Problem löst sich im Alleingang, du musst mit anderen zusammenarbeiten.
Es liegt an den Unternehmen, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen diese vier Bereiche entwickeln können. Man muss den Mitarbeitern die Freiheit und die Verantwortung geben.“
R: „Freiheit ist vielleicht das Wichtigste: Nur in Freiheit kann sich Talent zeigen.“
Kennst du schon unseren Podcast mit Rebekka Reinhard zum Thema Talent? Hier kannst du ihn dir gleich anhören.
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Die TEDx-Vortragende und Autorin erklärt uns, warum wir jeden Tag, wie unseren ersten betrachten sollten, wie wir unser Talent erkennen können und warum die Sache mit dem Glück manchmal so kompliziert ist. Weiterlesen...
Dr. Rebekka Reinhard, 47, ist Philosophin, Rednerin, Bestsellerautorin und spezialisiert auf die Themen Persönlichkeit und Ethik. Angewandte Philosophie ist für die Münchnerin kein Thema aus dem Elfenbeinturm, sondern ein ganz konkretes Rüstzeug, um den Alltag besser zu verstehen. Rebekkas aktuelles Buch „Wach denken: Für einen zeitgemäßen Ver- nunftgebrauch“ ist soeben bei edition körber erschienen.
Adam Yearsley, 48, ist Psychologe, Autor bei der „Harvard Business Review“ und dem „Fast Company“- Magazin sowie Verfasser
von Lehrbüchern zum Thema Führung. Er arbeitet als Global Head of Talent Management bei Red Bull und entwickelte den Persönlichkeitstest Wingfinder bei dem jeder seine persönlichen Stärken erkunden kann.