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Als ich 1972 mit vier Jahren auf den Schultern eines Riesen (meines Großvaters) meine erste Bergtour unternahm, da war Professor Viktor Frankl 67. Es war das Jahr, in dem der Wiener Neurologe, Psychiater und Philosoph – als Begründer der Logotherapie ein Wissenschaftler von Weltruf mit 29 Ehrendoktorraten – seinen Pilotenschein machte. Aus demselben Antrieb, aus dem er ein halbes Jahrhundert davor auf Peilstein und Rax mit dem Klettern begonnen hatte – aus Höhenangst und mit dem Entschluss, der eigenen Angst die Stirn bieten zu wollen.

Viktor Frankl

Bild: Wikimedia Commons

Frankl entwickelte und erprobte die Logotherapie an sich selbst, hier auf der Rax, Griff um Griff, Tritt für Tritt.

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Trotzmacht des Geistes“ nannte Frankl diese innere Einstellung in seiner Logotherapie. Mit dem Verweis, dass man sich nicht immer alles von sich selbst gefallen lassen müsse. Mitnichten.

An Trotzmacht des Geistes mangelte es auch mir nicht bei meiner ersten Bergtour. Sie äußerte sich, wann immer mein Opa Anstalten machte, mich von seinen Schultern heben und auf meine eigenen Beine stellen zu wollen. Also trug er mich. Den ganzen Weg. 13 Kilometer vom Bahnhof in Puchberg über den Herminensteig die 1.565 Höhenmeter bis hinauf zum Gipfelkreuz am Schneeberg in 2.075 Metern. Und wieder runter.

Bild: Wikimedia Commons

Mein Großvater trug mich. Den ganzen Weg. Bis hinauf zum Gipfelkreuz. Und wieder runter.

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Mit der linken Hand hielt er mich sanft am Knöchel, in seiner rechten hielt Opa – gefühlt, ohne Pausen – eine seiner qualmenden Flirt filterlos. Ich erinnere meinen schlaksigen Großvater trotz der 60 Zigaretten pro Tag in beneidenswerter Kondition. Schade nur, dass noch keine Schrittzähler und Smart Watches erfunden waren.

Angst hatte ich keine, auf den Schultern dieses Riesen.

Angst hatte ich keine, auf den Schultern dieses Riesen. Das Raunen, das am Morgen meiner ersten Bergtour beim Bahnhofswirten durch die achteltrinkende Schankrunde ging, als Opa erklärte, er werde mit mir über den alpinen Herminensteig zum Gipfel steigen, ich höre es heute noch. „Hast an Vogel, Karl: Kannst ja den kleinen Buben nicht auf den Berg schleppen“, sagten sie und klangen nachgerade besorgt. Ich wusste: Oh doch, Opa kann das. Und dass Berge etwas Besonderes sind. Sie wurden eine große Liebe.

Ich wusste Oh doch, Opa kann das. Und dass Berge etwas Besonderes sind. Sie wurden eine große Liebe.

Die Ferien meiner Kindheit verbrachte ich stets in der Puchberger Ski- und Bergschule. Wie Hort und Ferienspiel in einem, ansonsten gab es nur Fußball und da war ich mäßig begabt. Eine Parallele zu Viktor Frankl – auf den ich erst später über sein umfangreiches Werk stoßen sollte, ohne ihm je persönlich zu begegnen – gab es unwissentlich: Ich war in meiner Jugend Naturfreunde-Mitglied, er auch. Nur: Dass sie bei ihm 1934 von den Austrofaschisten verboten wurden. Weshalb der aufstrebende Jungarzt mit den aufsehenerregenden Behandlungserfolgen bei Suizidgefährdeten, dann in den Alpenverein Donauland wechselte, ehe auch der 1938 vom Nazi-Regime aufgelöst, Juden das Bergsteigen per Gesetzt verboten worden war.

Der aufstrebende Jungarzt wechselte in den Alpenverein Donauland, ehe 1938 Juden das Bergsteigen per Gesetzt verboten worden war.

Einmal obsiegte in dieser düsteren Zeit die Trotzmacht des Geistes gegenüber dem Rassenterror. Als nämlich ein Freund Frankls, seines Zeichens Wehrmachtssoldat, ihn animiert hat: „Kumm Vickerl, reiß den Judenstern runter, wir gehen klettern.“ Daran sollte sich Frankl Zeit seines Lebens zurückerinnern: „Wie ich wieder den Fels in meinen Pratzen gespürt habe, da habe ich den Berg geküsst, so glücklich war ich.

Ein Freund Frankls sagte ‚Kumm Vickerl, reiß den Judenstern runter, wir gehen klettern.‘

Meine Liebe zu den Bergen hingegen trübte nichts, in meinen jungen Jahren. Schneeberg, Hohe Wand, namenlose Felswände in der Gegend, es gab so viel zu entdecken vor der eigenen Haustür. Und hatte einmal ein Freund der Berge vergessen, was wir ausgemacht hatten, kletterte ich free solo. Oft auch aus einem gewissen Trotz heraus, gegenüber vergleichsweise harmlosen Anfechtungen meiner Adoleszenz: die Strenge der Eltern, der Druck in der Schule, die häuslichen Pflichten, der Herzschmerz enttäuschter Liebe. Auf den Berg gehen half immer.

Bild: Österreich Tourismus

Meine Liebe zu den Bergen trübte nichts.

Der Berg: eine Metapher für Selbstermächtigung? Für Über-sich-Hinauswachsen selbst in schwierigsten Situationen? Die Imaginationen seiner Glückserfahrungen beim Bergsteigen halfen Viktor Frankl, vier Konzentrationslager zu überleben. Als man ihn im KZ Kaufering händisch eine Straßenuntertunnelung graben ließ, mitten im Winter, bei Sturm und Kälte, sagte ein Mithäftling zu ihm: „Frankl, wenn ich dir zuschaue, wie du mit deinen vierzig Kilo so durch den tiefen Schnee stapfst: Wärst du kein Alpinist, du könntest das nie ertragen.

Die Imaginationen seiner Glückserfahrungen beim Bergsteigen halfen Viktor Frankl, vier Konzentrationslager zu überleben.

An solchem Aufflackern von menschlicher Wärme inmitten grausamer Kälte richtete sich Frankl stets wieder auf. Und an der Vorstellung mit allen Sinnen, wie er die Preiner Wand auf der Rax durchsteig – Griff um Griff, Tritt für Tritt. Er entwickelte, erprobte, verdichtete die Logotherapie an sich selbst. Er, der so viel durchlitten und im Holocaust Ehefrau, Eltern und Bruder verloren hatte, blieb trotz aller Widrigkeiten beim „Trotzdem ja zum Leben sagen“. So lautete nach seiner Befreiung der Titel seines Buches, in dem er die Zeit im KZ beschrieb, und das sich weltweit bis heute in Millionenhöhe verkauft hat. Ein zeitloser Appell an das Leben selbst. Zumal Frankl, bei allem, was er durchgemacht hatte, eine Kollektivschuld in Deutschland und Österreich vehement in Abrede stellte.

Peilstein, Seilschaft (um 1908). Formation Hahnenkamm

Peilstein (um 1908), Bild: Wikimedia Commons

Der Mensch findet seinen Sinn in der Liebe zu einem Menschen oder in der Hingabe an eine Sache.

Viktor Frankl

Der Mensch findet seinen Sinn in der Liebe zu einem Menschen und/oder in der Hingabe an eine Sache: Viktor Frankl propagierte stets auch das Bergsteigen exemplarisch als Direttissima zum erfüllten Leben. Die Festlegung auf ein Ziel. Das Annehmen einer Herausforderung. Die Ausrichtung auf Erstrebenswertes, das vor einem liegt. Auf das es gilt, ganz entschlossen und mutig zuzugehen. Für das es gilt, Risiko zu nehmen, Grenzen und Ängste zu überwinden, Entbehrungen und manchmal Leiden in Kauf zu nehmen. Und in der Fülle an Lebendigkeit, in der Selbstvergessenheit des Augenblicks, da nährt sich die Seele.

In der Fülle an Lebendigkeit, in der Selbstvergessenheit des Augenblicks, da nährt sich die Seele.

Das machte die Berge nicht nur für Viktor Frankl zu einer nicht versiegenden Sinn- und Inspirationsquelle, sondern auch für mich und wohl für alle, denen die Begeisterung für das Bergsteigen geschenkt ist. Frankl gab dem Sinn des Kletterns eine Sprache. Ein wertvoller und inspirierender Beitrag. Einer von vielen in seinem großen Lebenswerk.

Es gibt keine bedeutende Entscheidung in meinem Leben, die ich nicht in den Bergen getroffen hätte.

Viktor Frankl

„Wenn ich über das Rax-Plateau zur Preiner Wand hin gewandert bin, habe ich meditiert. Es gibt keine bedeutende Entscheidung in meinem Leben, die ich nicht oben in den Bergen getroffen hätte“, betonte Frankl die Bedeutung seines persönlichen Wachstums- und Selbstentfaltungsraumes zeitlebens in Vorträgen und 39 Büchern.

1985 schließlich stand der weltberühmte Seelen-Professor, schon achtzigjährig, mit seinem Bergführer Ignaz Gruber zum allerletzten Mal am Einstieg seiner Lieblingsroute, dem „3-Enzian-Steig“ auf der Rax. „Heute führe ich, Naz“, sagte er. Und kletterte beim letzten Mal erstmals im Vorstieg eines ehemaligen Himalaya-Expeditionsleiters dem Gipfel entgegen. Ein letztes „Berg heil!“.

1985 war das Jahr, in dem es am Heiligen Abend föhnige 18 Grad plus hatte. Warm genug, um auf die Hohe Wand klettern zu gehen. Ich war im Nachstieg meines Freundes Dieter, der später Extrembergsteiger wurde. Nachdem er mich die letzte Seillänge gesichert hatte, waren es nach dem Ausstieg nur noch 30 Meter über Grasnarben und schroffes Gestein. Völlig harmlos. Ich klinkte das Seil aus dem Karabiner, Dieter ging schon voraus, ich packte noch etwas in den Rucksack und wollte sofort folgen.

Plötzlich Todesangst.

Plötzlich: Todesangst. Man hätte mit Anlauf in die Tiefe springen müssen, um abzustürzen: Trotzdem, angefühlt hat es sich, als hinge ich mit nur einem Finger an einem Bohrhaken. Ich kauerte auf der Grasnarbe, bohrte die Finger ins lose Erdreich, schwitzte, weinte, zitterte und erlebte die schrecklichsten Momente meines Lebens. Diese Angst ging nicht weg. Sie schnürte mir den Atem ab und lähmte meine Bewegungen. Ich brauchte für die paar Meter bis zur erlösenden Kuppe ganze 40 Minuten. Eine Panikattacke. Woher? Warum? Was hätte Viktor Frankl gesagt, wenn er dabei gewesen wäre? Er hätte wohl die Paradoxe Intention angewendet: „Die Angst bis ins Absurde übertreiben.“ Meinem Freund war gar nichts aufgefallen. Es war auch meine letzte Bergtour. Für viele Jahre.

Bild: Getty Images

Als ich wieder den Fels in meinen Pratzen spürte, da habe ich den Berg geküsst, so glücklich war ich.

Die Angst vor der Höhe besuchte mich fortan oft. Es reichte schon ein Fernsehbeitrag übers Bergsteigen, dass ich in den Handflächen schwitzte. Diese Angst vor der Ausgesetztheit zwischen Himmel und Erde, war stärker als meine Sehnsucht nach ihr. Jahre danach rappelte ich mich auf und versuchte der Angst mit einer Fallschirmspringer-Ausbildung in Amerika die Trotzmacht des Geistes entgegen zu stellen. Keine sehr gute Idee: Schon bei meinem ersten Absprung landete ich not in einem Mangrovensumpf Floridas, weil die Funkverbindung zu meinen Instruktoren ausgefallen war. „Es soll halt nicht sein“, betäubte ich die Trauer um meine luftigen Hobbys. Damals schon konnte mich nichts so glücklich machen, wie die Zeit in Felswänden und auf Bergkämmen.

Damals schon konnte mich nichts so glücklich machen, wie die Zeit in Felswänden und auf Bergkämmen.

Später, das Leben hatte mir schon mehrere Kratzer in mein Selbstbild der Unverwundbarkeit gemacht, wie sich nicht zuletzt an heftigen Nachwehen einer privaten Trennung zeigte, gab ich es billiger. Und vertraute meinen Kummer und Angst vor großen Höhen einer Therapeutin an. Sie zitierte Viktor Frankl. Immer wieder. So kam ich auf ihn, diesen großen Österreicher, den Sinn-Lehrer im Dienste der Menschlichkeit mit seiner innigen Liebe zu den Bergen.

Ich vertraute meinen Kummer und Angst vor großen Höhen einer Therapeutin an. Sie zitierte Viktor Frankl. Immer wieder. So kam ich auf ihn.

Ich las ein Buch nach dem anderen von ihm. Dabei entstand dann, was ich „Seelenseilschaft über Raum und Zeit“ hinweg nenne. Ich weiß noch genau, dass ich mir fix vorgenommen hatte, den alten, beinahe vollständig erblindeten Herren live in einem seiner Vorträge besuchen und erleben zu wollen und mich sogar schon nach Terminen erkundigt hatte. Doch dann vergaß ich darauf im Tohuwabohu meines geschäftigen Alltags. Bis dann, im September 1997, überall Nachrufe auf ihn erschienen, mit seinen letzten Worten: „Diese Situation entbehrt jeder Tragik“, soll er zu seiner Frau auf dem Weg in die Intensivstation gesagt haben.

Diese Situation entbehrt jeder Tragik.

Viktor Frankl auf dem Sterbebett

In der Heimat ist ihm nie jene Wertschätzung zuteil geworden war, die er im Ausland genoss: „Wenn ich es mir aussuchen könnte, ob man mich bis nach Passau oder ab Passau kennt, dann nehme ich letzteres.“ Mein persönlicher Dank, durch sein Lebenswerk und seine Inspiration so viel besser zu mir, zu meinem Sinn und nach vielen Jahren des Getrenntseins wieder zu meiner alten Liebe, den Bergen, gefunden zu haben, kommt spät, aber von Herzen. Dort hat Viktor Frankl seinen Ehrenplatz als Mentor über Raum und Zeit hinweg: bei jeder Tour, auf jedem Gipfel und immer wenn ich aufgefordert bin, den kleinen und großen Dingen des Lebens Sinn zu geben, wird er im Vorstieg sein.

Berg und Sinn

Buchtipp: „Berg & Sinn“ von Michael Holzer und Klaus Haselböck
In diesem Werk wird nicht nur ein Bild von Viktor Frankl als Bergfreund und Naturliebhaber gezeichnet, man findet darin auch eine Anleitung zum Leben: wertvolle Strategien mitzunehmen, um die Bergtour des Lebens in jeder Etappe zu meistern!